Merkel rechnet an Harvard University mit Trumps Politik ab
Cambridge – Die deutsche Bundeskanzlerin hat anlässlich einer Rede an der Harvard University die internationale Zusammenarbeit und den freien Welthandel beschworen. «Mehr denn je müssen wir multilateral statt unilateral denken und handeln», sagte Merkel am Donnerstagabend unter dem Jubel von rund 20’000 Absolventen, Angehörigen und Professoren in einer Rede an der US-Eliteuniversität Harvard.
Die Kritik an der Politik von Donald Trump war unüberhörbar. Gehandelt werden müsse global statt national, weltoffen statt isolationistisch – «gemeinsam statt alleine». Protektionismus und Handelskonflikte gefährdeten den freien Welthandel und damit die Grundlage des Wohlstands, warnte Merkel. «Veränderungen zum Guten sind möglich, wenn wir sie gemeinsam angehen», so Merkel. In Alleingängen werde das nicht gelingen.
Mauern einreissen
Merkel rief dazu auf, Mauern in den Köpfen einzureissen, Ignoranz und Engstirnigkeit zu bekämpfen, Demokratie und Freiheit zu verteidigen und sorgsam mit der Wahrheit umzugehen. Dann sei alles möglich. Auch wenn Merkel Trump kein einziges Mal erwähnte, wirkte ihre Rede wie eine Abrechnung mit der Politik des US-Präsidenten.
Mit Blick auf den von Menschen verursachten Klimawandel und die daraus folgenden Krisen sagte die Kanzlerin, man müsse «alles Menschenmögliche tun, um diese Menschheitsherausforderung wirklich in den Griff zu bekommen». Noch sei dies möglich. «Doch dazu muss jeder seinen Beitrag leisten», sagte Merkel. «Das sage ich auch selbstkritisch» – man müsse hier besser werden. Sie werde sich deshalb «mit ganzer Kraft dafür einsetzen, dass Deutschland 2050 das Ziel der Klimaneutralität erreichen werde. «Veränderungen zum Guten sind möglich, wenn wir sie gemeinsam angehen. In Alleingängen wird das nicht gelingen.»
«Lügen nicht Wahrheiten nennen und Wahrheiten nicht Lügen»
Merkel mahnte, es sei möglich, Antworten auf die schwierigen Fragen der heutigen Zeit zu finden, «wenn wir Respekt vor der Geschichte, der Tradition, der Religion und der Identität anderer haben, wenn wir fest zu unseren unveräusserlichen Werten stehen und danach handeln und wenn wir bei allem Entscheidungsdruck nicht immer unseren ersten Impulsen folgen, sondern zwischendurch einen Moment innehalten, schweigen, nachdenken, Pause machen.» Dafür brauche es Mut und Wahrhaftigkeit gegenüber anderen und sich selbst, mahnte sie und betonte auch: «Dazu gehört, dass wir Lügen nicht Wahrheiten nennen und Wahrheiten nicht Lügen.»
«Das alles können wir schaffen»
Merkel rief zu Zuversicht auf: «Mauern können einstürzen.» Es sei möglich, Diktaturen zu beseitigen, die Erderwärmung zu stoppen, den Hunger auf der Welt zu besiegen, Krankheiten auszurotten, Fluchtursachen zu bekämpfen und den Menschen – insbesondere Mädchen – Zugang zu Bildung zu geben. «Das alles können wir schaffen», sagte sie und mahnte: «Überraschen wir uns damit, was möglich ist. Überraschen wir uns damit, was wir können.»
Die Kanzlerin erzählte auch von ihrer Vergangenheit in der DDR. Die Berliner Mauer habe ihr Leben als junge Frau damals sehr eingeschränkt, ihr aber nie ihre Träume und Sehnsüchte nehmen können. Mit dem Fall der Mauer habe sich damals auch für sie eine Tür in eine neue Zukunft geöffnet. «Was festgefügt und unveränderlich scheint, das kann sich ändern», betonte sie. Nichts sei aber selbstverständlich, Demokratie nicht, Frieden nicht, Wohlstand nicht. «Aber wenn wir die Mauern, die uns einengen, einreissen, wenn wir ins Offene gehen und Neuanfänge wagen, dann ist alles möglich.» Sie appellierte an die Absolventen: «Reissen Sie die Mauern von Ignoranz und Engstirnigkeit ein, denn nichts muss so bleiben, wie es ist.»
Ehrendoktorwürde verliehen
Die Harvard-Universität verlieh der promovierten Physikerin Merkel bei ihrem Besuch auch die Ehrendoktorwürde. Explizit lobte die Hochschule unter anderem Merkels Slogan «Wir schaffen das» in der Flüchtlingskrise, der ihr in Deutschland viel Kritik eingebracht hatte. Merkels Entscheidung, in grosser Zahl Migranten und Flüchtlinge ins Land zu lassen, habe ihren Willen gezeigt, für das einzustehen, was sie für richtig halte – auch wenn dies unpopulär sei.
Zu einem Treffen mit Trump kam es bei Merkels Kurzbesuch in den USA nicht. Nach Angaben eines deutschen Regierungssprechers hatte die US-Seite frühzeitig mitgeteilt, dass der Präsident an diesem Tag nicht in Washington sein werde. Trump sprach am Donnerstag ebenfalls vor Absolventen, allerdings etwa 3000 Kilometer von der Universität Harvard entfernt, an der US Air Force Academy im US-Bundesstaat Colorado. (awp/mc/pg)