Gaza / Tel Aviv – Im Streit über einen Nachkriegsplan für den Gazastreifen hat Minister Benny Gantz die israelische Notstandsregierung verlassen. Der frühere Verteidigungsminister warf Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und dessen Vertrauten am Sonntagabend «Zögerlichkeit und Zeitschinderei aus politischen Erwägungen» vor. «Wir verlassen heute die Notstandsregierung, mit schwerem, aber von ganzem Herzen», sagte Gantz. Er war bislang auch Mitglied des wichtigen Kriegskabinetts gewesen, das im Oktober nach dem Terrorangriff der Hamas und anderer Islamisten auf Israel gebildet worden war. Sein Schritt könnte Medienberichten zufolge zur Auflösung des Kriegskabinetts führen.
Der ehemalige General Gantz war nach dem Massaker vom 7. Oktober als Minister ohne Ressort in Netanjahus Regierung eingetreten, um ein Zeichen der Geschlossenheit zu setzen. Sein Rücktritt macht nun die fundamentalen Differenzen innerhalb der Koalition überdeutlich. Gantz hatte seinen Kabinettsaustritt bereits angedroht für den Fall, dass Netanjahus Regierung keinen Plan für eine Nachkriegsordnung im Gazastreifen erarbeitet. Das von ihm vor einigen Wochen gesetzte Ultimatum in der Sache lief am Samstag aus. Wegen der dramatischen Befreiung von vier Geiseln aus dem Gazastreifen am selben Tag verschob er jedoch eine geplante Pressekonferenz in letzter Minute. Der Austritt aus der Regierung betrifft laut Gantz auch weitere Mitglieder seiner Partei Nationale Union.
Israels Führung wird er mit dem Schritt aber nicht stürzen. Denn Netanjahus rechts-religiöses Kabinett verfügt auch ohne Gantz› Partei weiterhin über eine Mehrheit von 64 von 120 Sitzen im Parlament.
Netanjahu lässt Zukunft des Gazastreifens im Ungewissen
Netanjahu weigert sich nach wie vor, einen Plan für Verwaltung und Wiederaufbau des Gazastreifens nach Beendigung des Krieges vorzulegen – wohl auch, um seine ultrarechten Koalitionspartner nicht vor den Kopf zu stossen. Diese verfolgen Ziele wie einen höchst umstrittenen israelischen Siedlungsbau im Gazastreifen. Netanjahus politisches Überleben hängt von ihnen ab.
Gantz forderte, Israel müsse alles unternehmen, um das von US-Präsident Joe Biden unterstützte Abkommen für eine Feuerpause und die Befreiung der im Gazastreifen von der Hamas festgehaltenen Geiseln im Austausch gegen palästinensische Häftlinge umzusetzen. Israel müsse sich auf jahrelange Kämpfe einstellen, warnte er.
Bericht: USA wollen UN-Beschluss zu Entwurf für Friedensabkommen
Die USA sollen unterdessen den Entwurf für eine neue Resolution des UN-Sicherheitsrats verteilt haben, in der die Hamas zur Annahme des Abkommens über ein Ende der Kämpfe aufgerufen werden soll, wie der gut vernetzte israelische Journalist Barak Ravid unter Berufung auf informierte Quellen berichtete. In dem Entwurf hiess es demnach, das Abkommen sei von Israel akzeptiert worden und die Hamas sei ebenfalls dazu aufgerufen, es zu akzeptieren. Beide Kriegsparteien müssten die genannten Bedingungen vollständig und unverzüglich umsetzen. Eine Abstimmung im mächtigsten UN-Gremium werde in Kürze erwartet, schrieb Ravid auf X.
US-Aussenminister auf diplomatischer Mission in Nahost
In dieser Woche wird US-Aussenminister Antony Blinken in Nahost erwartet, um erneut für das Abkommen zu werben. Seine Reise führt ihn nach Ägypten, Israel, Jordanien und Katar. Seit Wochen vermitteln Katar, die USA und Ägypten zwischen Israel und der Hamas, die keine direkten Verhandlungen miteinander führen.
Terroristen der Hamas und anderer extremistischer Gruppen aus dem Gazastreifen waren am 7. Oktober überraschend in den Süden Israels eingedrungen, töteten mehr als 1200 Menschen und nahmen über 250 Geiseln. Das Massaker löste den Gaza-Krieg aus, der nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde mehr als 37 000 Palästinenser das Leben kostete. Rund 84 500 weitere wurden demnach verletzt. Die Zahlenangaben unterscheiden nicht zwischen Kämpfern und Zivilisten und sind unabhängig kaum zu verifizieren.
Israels Armee steht wegen ihres Vorgehens im Gazastreifen und der hohen Zahl ziviler Opfer international stark in der Kritik. Die humanitäre Lage der mehr als zwei Millionen Menschen im Gazastreifen ist Hilfsorganisationen zufolge verheerend.
Welternährungsprogramm: Neue Probleme für Gaza-Hilfe
Das Welternährungsprogramm (WFP) hat die Verteilung von Hilfsgütern für die Menschen im Gazastreifen über eine provisorische Anlegestelle vor dem Küstengebiet vorerst gestoppt. Sie sei um die Sicherheit der Mitarbeiter besorgt, nachdem zwei Lagerhäuser ihrer Organisation am Samstag unter Raketenbeschuss gekommen seien, sagte WFP-Direktorin Cindy McCain dem US-Fernsehsender CBS am Sonntag (Ortszeit). Wie es dazu kommen konnte, wisse sie nicht. Ob sich McCain auf die Vorgänge um die gewaltsame Geisel-Befreiung durch die israelische Armee im Zentrum des Gazastreifens bezog, war unklar.
Wo genau sich die Lagerhäuser befinden, sagte sie nicht. Ansonsten liefen die Hilfsaktivitäten im restlichen Gazastreifen aber weiter, betonte McCain. Die israelische Armee wisse, wo in dem Küstengebiet das WFP-Team präsent sei.
McCain war nach der Hilfsgüterverteilung über ein vom US-Militär errichtetes Pier im Meer vor Gaza gefragt worden. Das für den Nahen Osten zuständige US-Regionalkommando (Centcom) hatte noch am Samstagabend erklärt, über den Pier kämen wieder Hilfslieferungen. Die Anlegestelle war zuvor wieder repariert worden, nachdem sie Ende Mai nur wenige Tage nach Fertigstellung bei rauem Wellengang schweren Schaden genommen hatte. (awp/mc/pg)