Premier Johnson will trotz scharfer Kritik weitermachen
London – Trotz scharfer Kritik aus den eigenen Reihen und mehr als einem Dutzend Rücktritten von Parteifreunden will der britische Premierminister Boris Johnson im Amt bleiben. «Die Aufgabe eines Premierministers in schwierigen Umständen, wenn er ein starkes Mandat hat, ist weiterzumachen. Und das ist, was ich tun werde», sagte Johnson am Mittwoch im Parlament in London auf die Frage eines Parteikollegen, ob er je erwäge, zurückzutreten. Ausgelöst hatte die Regierungskrise eine Affäre um Vorwürfe sexueller Übergriffe durch ein führendes Fraktionsmitglied.
Mehrere konservative Parteifreunde riefen Johnson bei der Fragestunde im Parlament am Mittwoch direkt oder indirekt zum Rücktritt auf. Die Stimmung auf den Bänken der Konservativen im Unterhaus – normalerweise wird der Premier dort mit lautstarken «Yeah, Yeah, Yeah»-Rufen angefeuert – war eisig. Teilweise herrschte Grabesstille. Ex-Gesundheitsminister Sajid Javid, der am Dienstagabend sein Amt niedergelegt hatte, rief weitere Kabinettsmitglieder auf, seinem Beispiel zu folgen.
Auf den Gängen des Parlaments wurde gemunkelt, dem Premier könne die Entscheidung bald abgenommen werden. Noch am Mittwoch sollte das einflussreiche 1922-Komitee tagen, in dessen Kompetenz es liegt, die Regeln für ein Misstrauensvotum gegen den Tory-Parteichef festzulegen.
Letzte Misstrauensabstimmung vor einem Monat
Johnson hatte erst vor einem Monat eine Misstrauensabstimmung in seiner Fraktion knapp überstanden. Den bisherigen Regeln der Tory-Partei zufolge darf für die Dauer von zwölf Monaten nach der Abstimmung kein neuer Versuch unternommen werden.
Doch die Forderungen nach einer Änderung der Regeln wurden am Mittwoch deutlich lauter. Es sei nun «entscheidend», dass das sogenannte 1922-Komitee die Voraussetzungen für eine neue Vertrauensabstimmung schaffe, schrieb etwa der konservative Abgeordnete Chris Skidmore in einem Brief an dessen Vorsitzenden Graham Brady, den er auf Twitter veröffentlichte.
Der in Tory-Kreisen hervorragend vernetzte Journalist James Forsyth vom konservativen «Spectator»-Magazin zitierte ein einflussreiches Mitglied des Gremiums damit, man wolle Johnson die Pistole auf die Brust setzen. Sollte er nicht freiwillig zurücktreten, werde man den Weg für das Misstrauensvotum freimachen. Spekuliert wurde, dass es bereits am Donnerstag zu einem neuen Misstrauensvotum kommen könnte. Sollte die Mehrheit dafür in dem Komitee fehlen, könnte dem zunächst eine Wahl zur Neubesetzung vorausgehen.
Belästigungsaffäre führt zu Reihe von Rücktritten
Ausgelöst wurde die jüngste Regierungskrise in Westminster durch die Belästigungsaffäre um Johnsons Parteikollegen Chris Pincher. Sie hatte am Dienstag zu einer Reihe von Rücktritten im Kabinett geführt. Zuvor war herausgekommen, dass Johnson von Vorwürfen sexueller Belästigung gegen Pincher wusste, bevor er ihn in ein wichtiges Fraktionsamt hievte. Das hatte sein Sprecher zuvor jedoch mehrmals abgestritten.
Johnson entschuldigte sich. Doch es war zu spät. Finanzminister Rishi Sunak und Gesundheitsminister Sajid Javid traten ab, etliche weitere Abgeordnete legten Partei- und Regierungsämtern nieder. Es gilt als wahrscheinlich, dass Johnson ein weiteres Misstrauensvotum nicht überstehen würde. Einer Sprecherin zufolge will er sich einem möglichen Votum aber stellen und ist weiterhin davon überzeugt, eine Mehrheit in seiner Fraktion hinter sich zu haben. (awp/mc/pg)