Odessa / Moskau / New York – Nach einer Attacke auf die strategisch wichtige Brücke zur Schwarzmeer-Halbinsel Krim hat Russland zum Gegenschlag ausgeholt: Im Süden der Ukraine griff die russische Armee am Dienstag in mehreren Wellen die Hafenstädte Odessa und Mykolajiw an. Nach ukrainischen Angaben wurden annähernd 30 Marschflugkörper und Drohnen abgewehrt. Aus Moskau hiess es, Ziel sei unter anderem eine Werft für ferngesteuerte Kampfboote gewesen. Russland beschuldigt die Ukraine, mit solchen Booten am Montag die Brücke zur Krim angriffen und beschädigt zu haben. Russland hält die ukrainische Halbinsel seit fast zehn Jahren völkerrechtswidrig besetzt.
Nach der Aufkündigung durch Moskau ist nun auch das internationale Abkommen zur Ausfuhr von Getreide aus der Ukraine nicht mehr in Kraft. Mit der Regelung hatte Kiew seit Sommer vergangenen Jahres trotz des russischen Angriffskriegs viele Millionen Tonnen Getreide übers Schwarze Meer ausführen können. Der Kreml warnte, weitere Exporte ohne russische Zustimmung seien riskant. Die russische Führung reagierte damit auf einen Vorschlag des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj.
Warnung vor «Hunger als Waffe»
Nach EU-Angaben wurden durch das Abkommen, den die UN und die Türkei mit ausgehandelt hatten, fast 33 Millionen Tonnen Getreide und andere Lebensmittel ausgeschifft – auch über den jetzt angegriffenen Schwarzmeer-Hafen Odessa. Nach dem Aus für den Vertrag könnten global etliche Lebensmittelpreise steigen – mit fatalen Folgen vor allem für arme Länder. Aussenministerin Annalena Baerbock (Grüne) appellierte abermals an den Kreml: «Hören Sie auf, Hunger als Waffe zu benutzen.»
Abhilfe schaffen zum Teil von der EU und der Ukraine ausgebaute Handelswege über Flüsse, Schienen und Strassen. Über die sogenannten Solidaritätskorridore sind nach EU-Angaben seit Kriegsbeginn bis Ende Juni 41 Millionen Tonnen Getreide, Ölsaaten und andere Agrarprodukte exportiert worden. Russland führt seit rund 17 Monaten einen Angriffskrieg gegen das Nachbarland. Inzwischen läuft eine ukrainische Gegenoffensive.
Experten erwarten logistische Probleme für russische Truppen
Wegen der Schäden an der 19 Kilometer langen Krim-Brücke könnte die russische Armee nach Einschätzung westlicher Experten beachtliche logistische Probleme im Süden der Ukraine bekommen. Nun sei die Versorgung vieler Truppen vorerst von einer Nachschubroute abhängig, hiess es in der Analyse des US-Instituts für Kriegsstudien ISW. Diese Route führe aber durch die umkämpften Gebiete Donezk, Saporischschja und Cherson und werde wohl zusätzlich durch die Flucht russischer Touristen von der Krim belastet.
Bundeswehr ordert für 1,3 Milliarden Euro Artilleriegeschosse
Schon jetzt müssen die russischen Besatzungstruppen nach Analyse britischer Militärexperten ihre Artilleriemunition rationieren, um einsatzbereit zu bleiben. Dennoch sei es den Ukrainern trotz Angriffen auf mindestens zwei Achsen wohl nicht gelungen, die vordersten Verteidigungslinien dort zu durchbrechen, hiess es in einem Bericht des Verteidigungsministeriums in London.
Auch bei der Bundeswehr, die viel Munition an die Ukraine geliefert hat, klaffen grosse Lücken. Die Truppe hat nun den Rüstungskonzern Rheinmetall mit der Lieferung Hunderttausender Artilleriegeschosse im Wert von 1,3 Milliarden Euro beauftragt.
Russland: Erneute Attacke abgewehrt
Russlands Militär meldete am Dienstag, man habe nahe der Krim einen weiteren grösseren Drohnenangriff abgewehrt. Insgesamt 28 ukrainische Flugkörper seien in der Nacht abgeschossen oder von ihrer geplanten Flugbahn abgebracht worden, teilte das Verteidigungsministerium mit. Unabhängig überprüfen liess sich das nicht.
EU und lateinamerikanische Staaten uneins über Ukraine-Erklärung
Debatten über die russische Invasion überschatteten auch ein Gipfeltreffen der EU mit der Gemeinschaft der lateinamerikanischen und karibischen Staaten in Brüssel. Sie rangen am Dienstag um eine geplante Erklärung zum Angriffskrieg. Nach Angaben von Diplomaten gelang es bis mittags nicht, sich auf einen Text zu verständigen. Grund war demnach der Widerstand von Ländern wie Nicaragua und Venezuela, die als Verbündete Russlands zählen. (awp/mc/ps)