Berlin – Nach einem historischen Wahldebakel und einem erbitterten Machtkampf in der SPD hat Andrea Nahles überraschend ihren Rücktritt als Partei- und Fraktionschefin angekündigt. Die SPD stürzt damit noch tiefer in eine Existenzkrise, die auch die grosse Koalition ins Wanken bringt. CDU und CSU forderten am Sonntag von ihrem Bündnispartner zügige Personalentscheidungen, um die Handlungsfähigkeit der Regierung nicht zu gefährden. Wer Nahles nachfolgt, ist aber noch völlig unklar.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) versicherte: «Wir werden die Regierungsarbeit fortsetzen mit aller Ernsthaftigkeit und vor allen Dingen auch mit grossem Verantwortungsbewusstsein.» AfD und Linke forderten Neuwahlen.
Nahles kündigte ihren Rückzug nach nur 13 Monaten an der Parteispitze am Sonntagmorgen in einem kurzen Schreiben an die Parteimitglieder an. «Die Diskussion in der Fraktion und die vielen Rückmeldungen aus der Partei haben mir gezeigt, dass der zur Ausübung meiner Ämter notwendige Rückhalt nicht mehr da ist», heisst es darin. Sie werde an diesem Montag und Dienstag in Parteivorstand und Fraktion ihre Entscheidung offiziell bekanntgeben. «Damit möchte ich die Möglichkeit eröffnen, dass in beiden Funktionen in geordneter Weise die Nachfolge geregelt werden kann.»
Nahles zieht sich komplett aus Politik zurück
Nahles wird auch ihr Bundestagsmandat niederlegen und sich damit komplett aus der Bundespolitik zurückziehen. An der Partei- und Fraktionsspitze gibt es voraussichtlich zunächst Übergangslösungen. Die Führung der Fraktion soll Vize Rolf Mützenich kommissarisch übernehmen, als vorübergehende Parteivorsitzende ist die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer im Gespräch.
Finanzminister Olaf Scholz hat ausgeschlossen, dass er neuer SPD-Vorsitzender wird – sowohl kommissarisch als auch dauerhaft. «Nein, ich halte das mit dem Amt eines Bundesministers der Finanzen nicht zeitlich zu schaffen», sagte er am Sonntagabend in der ARD-Sendung «Anne Will».
Merkel zollte Nahles Respekt: «Sie ist Sozialdemokratin mit Herzblut, das kann man sagen. Aber ich finde, sie ist auch ein feiner Charakter.»
AKK: Stehen weiter zur grossen Koalition
CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer, die nach einem historisch schlechten Ergebnis ihrer Partei bei der Europawahl selbst angeschlagen ist, bekannte sich zum Bündnis mit den Sozialdemokraten. «Dies ist nicht die Stunde von parteitaktischen Überlegungen. Wir stehen weiter zur grossen Koalition», sagte sie, betonte aber auch, dass die grosse Koalition «kein Selbstzweck» sei. Ähnlich äusserte sich der CSU-Vorsitzende Markus Söder in der ARD: «Die GroKo braucht es nicht um jeden Zweck, aber es braucht eine gute und starke Regierung für Deutschland.»
Die engste CDU-Spitze hat nach der Rückzugsankündigung von SPD-Partei- und Fraktionschefin Andrea Nahles versucht, vorerst die Reihen zu schliessen. Mitglieder des CDU-Präsidiums hätten die Verantwortung betont, die man nun für die Stabilität der Regierung habe, erfuhr die Deutsche Presse-Agentur am Sonntag aus der von Parteichefin Annegret Kramp-Karrenbauer in Anwesenheit von Kanzlerin Angela Merkel geleiteten Sitzung. Man stehe zur grossen Koalition und zur Kanzlerin. Die SPD sei ein mahnendes Beispiel, dass persönliche Befindlichkeiten wichtiger seien als die Verantwortung gegenüber dem Land. Soweit werde es bei der CDU nicht kommen, betonten Teilnehmer.
Forderungen nach einem Ende der grossen Koalition gab es aus Union und SPD zunächst nur vereinzelt. Sylvia Pantel, Sprecherin des konservativen Berliner Kreises in der Union, sagte der «Bild»-Zeitung: «Jetzt ist klar: Die GroKo ist am Ende.» Der Vizepräsident des SPD-Wirtschaftsforums, Harald Christ, äusserte sich ähnlich.
Wahldesaster für SPD
Die SPD hatte bei der Europawahl mit 15,8 Prozent ihr bisher schlechtestes Ergebnis bei einer bundesweiten Wahl eingefahren und war von den Grünen erstmals als zweitstärkste Kraft abgelöst worden. Zudem gab sie bei der Landtagswahl in Bremen nach 73 Jahren ihre Spitzenposition ab. In der ersten Umfrage zur Bundestagswahl nach dem schwarzen Wahlsonntag stürzte die SPD am Wochenende noch weiter ab: von 17 auf 12 Prozent im Vergleich zur Vorwoche (Forsa für RTL und n-tv).
Nahles hatte nach den Wahlschlappen angekündigt, in der Fraktion am kommenden Dienstag mit einer vorgezogenen Vorsitzenden-Neuwahl die Machtfrage zu stellen. Bei einer Sonderfraktionssitzung am Mittwoch war dann deutlich geworden, dass die 48-Jährige nur noch wenig Rückhalt hatte. Die Sitzung wurde zu einer Art Scherbengericht für sie und hat möglicherweise den Ausschlag für ihre Entscheidung gegeben.
Nahles war nach dem schlechten Abschneiden der SPD bei der Bundestagswahl 2017 Fraktionsvorsitzende geworden und im April 2018 als erste Frau an die Spitze der Partei gewählt worden. Sie hatte sich dafür eingesetzt, nach dem Scheitern der Verhandlungen über eine «Jamaika-Koalition» von Union, Grünen und FDP wieder in eine grosse Koalition einzutreten. Die Entscheidung ist in der SPD bis heute höchst umstritten.
Folgt Manuela Schwesig auf Nahles?
Als mögliche Nachfolger von Nahles an der Parteispitze wurden bisher vor allem die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig, und der niedersächsische Regierungschef Stephan Weil gehandelt. Weil signalisierte am Sonntag bereits im NDR, dass er keinen Wechsel nach Berlin anstrebe: «Ich bin und bleibe furchtbar gerne Ministerpräsident aus Niedersachsen und habe keine anderen Ambitionen.»
Als möglicher Kandidat für den Fraktionsvorsitz gilt der bisherige Vizechef Achim Post. Der SPD-Linke Matthias Miersch und Ex-Kanzlerkandidat Martin Schulz hatten noch vor der Rücktrittsankündigung erklärt, nicht gegen Nahles antreten zu wollen – was nicht automatisch bedeutet, dass sie eine Kandidatur grundsätzlich ausschliessen.
Wann die beiden Spitzenposten der SPD neu besetzt werden, ist noch unklar. Mehrere führende SPD-Politiker warnten am Sonntag vor Schnellschüssen. Der nächste Parteitag ist für Dezember geplant. Sollte der Wechsel früher vollzogen werden, wäre dafür ein Sonderparteitag notwendig. Auch eine Mitgliederabstimmung über die Nahles-Nachfolge wurde schon ins Gespräch gebracht. In der Fraktion war die Wahl eines neuen Vorsitzenden turnusmässig für September geplant, könnte aber problemlos auch für früher angesetzt werden.
«Da hat auch Frauenfeindlichkeit eine Rolle gespielt»
Mehrere SPD-Politiker zeigten sich erschüttert über den Umgang mit Nahles. «Da hat auch Frauenfeindlichkeit eine Rolle gespielt», sagte Fraktionsvize Karl Lauterbach der «Welt». «Wir müssen darüber nachdenken, ob wir mit diesem Umgang tatsächlich Vorbild sein können.» Der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth, nannte den öffentlichen Umgang mit Nahles «schändlich». «Einige in der SPD sollten sich schämen.» Ex-Parteichef Sigmar Gabriel sagte: «Die SPD braucht eine Entgiftung.»
Linke und AfD forderten eine Neuwahl des Bundestags. «Die ehemals grosse Koalition bewegt sich im Chaos», sagte Linksfraktionschef Dietmar Bartsch im ZDF. «Ich glaube, eine faire Lösung wäre jetzt, die Wählerinnen und Wähler zu befragen.» Auch AfD-Partei- und Fraktionschef Alexander Gauland sagte: «Wir wollen Neuwahlen haben.»
Grünen-Bundesgeschäftsführer Michael Kellner schloss einen Koalitionswechsel zu «Jamaika» mit Union und FDP ohne Neuwahlen aus. Damit wären bei einem Bruch der grossen Koalition nur Neuwahlen oder eine Minderheitsregierung möglich. (awp/mc/ps)