Arlington – Der kriselnde Flugzeugbauer Boeing leitet wenige Wochen nach einem Beinahe-Unglück einen Wechsel an der Konzernspitze ein. Boeing-Chef Dave Calhoun gebe den Posten Ende des Jahres ab, teilte der US-Konkurrent des europäischen Flugzeugherstellers Airbus am Montag in Arlington mit. Der Flug einer Boeing 737-9 Max von Alaska Airlines am 5. Januar sei für den Konzern ein Wendepunkt gewesen, schrieb Calhoun an die Mitarbeiter. «Die Augen der Welt sind auf uns gerichtet.»
Neben Calhoun treten auch Verwaltungsratschef Larry Kellner und der Chef der Verkehrsflugzeugsparte, Stan Deal, ab. Während Kellner bei der diesjährigen Hauptversammlung nicht mehr zur Wahl antritt, übergibt Deal seinen Posten mit sofortiger Wirkung an Stephanie Pope. Die Managerin hatte bei Boeing erst Anfang des Jahres die Leitung des Tagesgeschäfts übernommen. Bei der Bekanntgabe ihres Aufstiegs im Dezember wurde sie schon als mögliche Nachfolgerin Calhouns an der Konzernspitze gehandelt.
«Persönliche Entscheidung»
Calhoun selbst war Anfang 2020 auf den Chefposten gewechselt, nachdem sein Vorgänger Dennis Muilenburg infolge seines stark kritisierten Krisenmanagements nach den Abstürzen zweier 737-Max-Jets den Hut genommen hatte. Calhoun betonte nun, dass sein eigener Abschied seine persönliche Entscheidung gewesen sei. Er habe den Verwaltungsrat informiert, dass 2024 sein letztes Jahr als Konzernchef sein werde.
Wer Calhouns Nachfolge an der Spitze des Luftfahrt- und Rüstungskonzerns übernimmt, steht noch nicht fest. Den Auswahlprozess soll der neue Verwaltungsratschef Steve Mollenkopf leiten. Der frühere Chef des Chipherstellers Qualcomm gehört dem Gremium seit dem Jahr 2020 an.
Fehlende Befestigungsbolzen
Bei dem Jet von Alaska Airlines war im Flug ein türgrosses Teil des Rumpfs herausgeflogen. Die mehr als 170 Insassen der Maschine kamen mit dem Schrecken davon. Die US-Luftfahrtbehörde FAA nimmt die Produktion von Boeing und dessen Rumpfzulieferer Spirit Aerosystems unter die Lupe, die Unfalluntersuchungsbehörde NTSB und das US-Justizministerium ermitteln. Die NTSB-Experten gehen nach ersten Erkenntnissen davon aus, dass an dem Rumpf-Fragment vier Befestigungsbolzen gefehlt hatten.
Auf Geheiss von FAA darf Boeing die Produktion der gesamten 737-Max-Reihe nun bis auf Weiteres nicht wie zuvor geplant ausweiten. Wegen der Verzögerungen in Boeings Produktion haben Fluggesellschaften wie der irische Billigflieger Ryanair und sein US-Pendant Southwest schon ihre Flugpläne gekappt.
Ryanair begrüsst Veränderungen
Ryanair-Chef Michael O’Leary begrüsste die «Veränderungen im Management in Seattle», wo Boeings Verkehrsflugzeugsparte ihren Sitz hat. Ryanair sei der Ansicht, dass diese Veränderungen notwendig und gut für Boeing und seine Kunden seien. Die Billigfluggesellschaft betreibt eine Flotte von rund 600 Maschinen und setzt dabei fast durchweg auf Boeings 737-Reihe.
Krise nach Krise und Milliardenkosten
Der Mittelstreckenjet 737 Max ist die Neuauflage der seit den 1960er Jahren gebauten Boeing 737 und das mit Abstand meistgefragte Modell des Herstellers. 2019 war Boeing mit dem Typ in die schwerste Krise seiner Geschichte geraten. Nach den Abstürzen zweier 737-Max-Jets mit insgesamt 346 Toten hatten Luftfahrtbehörden in aller Welt Flugverbote für das Modell erlassen. Erst nach einigen technischen Verbesserungen wurde das Modell nach mehr als 20 Monaten schrittweise wieder für den Flugverkehr freigegeben.
Den Hersteller kostete das Desaster Milliardensummen. Auf einen Schlag verlor Boeing 2019 seine Position als weltgrösster Flugzeughersteller an den europäischen Konkurrenten Airbus und hinkt diesem seitdem weit hinterher. Inzwischen schreibt der US-Konzern fünf Jahre in Folge rote Zahlen. Die Folgen des jüngsten Zwischenfalls und die behördlichen Auflagen kosten Boeing weitere Milliarden, wie Finanzchef Brian West vor wenigen Tagen gesagt hatte.
Calhoun will den Konzern den Angaben zufolge nun weiter durch das Jahr führen, um die Stabilisierung des Unternehmens und seine Positionierung für die Zukunft abzuschliessen. «Wir müssen weiterhin mit Demut und vollständiger Transparenz auf diesen Unfall reagieren», schrieb der Manager an die Mitarbeiter. «Ausserdem müssen wir auf allen Ebenen unseres Unternehmens ein umfassendes Engagement für Sicherheit und Qualität verankern.»
Bei den jüngsten Untersuchungen hat Boeing laut «New York Times» von 89 Überprüfungen einzelner Prozesse nur 56 bestanden. Insgesamt seien 97 Verstösse festgestellt worden, hatte die Zeitung Mitte März unter Berufung auf eine interne Präsentation berichtet. Wie schwerwiegend die Probleme waren, blieb dabei unklar. Die FAA teilte bisher lediglich mit, sie habe mehrfach Verstösse gefunden.
Übernahme von Spirit Aerosystems?
Inzwischen lotet Boeing die Übernahme seines Zulieferers Spirit Aerosystems aus, der den Grossteil der Rümpfe für die 737-Max-Jets baut. Dies hatte der Hersteller Anfang März bestätigt. Schon im vergangenen Jahr hatte Spirit wegen Produktionsmängeln aufwendige Nacharbeiten und Verzögerungen bei Boeing notwendig gemacht.
Bis zum Jahr 2005 hatte Spirit Aerosystems als Boeings Rumpfsparte fast 80 Jahre lang zum Konzern gehört. Dann verkaufte der Konzern das Werk in Wichita (Kansas) mit weiteren Standorten an einen Finanzinvestor. Dieser brachte Spirit später an die Börse. Bis heute ist Boeing dessen wichtigster Kunde. Medienberichten zufolge prüft Spirit auch einen Verkauf seines Werks in Nordirland, das Tragflächen für Boeings Rivalen Airbus herstellt. (awp/mc/pg)