Ukraine: Feuerpause in Ostukraine

Ukraine: Feuerpause in Ostukraine

Regierungstruppen der Ukraine in der Gegend um Slawjansk. (Archivbild)

Minsk –  In dem von monatelangen Kämpfen zerbombten Bürgerkriegsgebiet Ostukraine können die Bewohner erstmals wieder auf Frieden hoffen. Regierungstruppen und prorussische Separatisten haben sich auf eine Feuerpause geeinigt. Zum ersten Mal seit Beginn der Kämpfe im April sollen nun auf beiden Seiten die Waffen schweigen. Ob die am Freitagabend zunächst bestätigte Feuerpause hält, bleibt zwar abzuwarten. Aber zumindest sprechen alle Beteiligten von der bisher grössten Chance, von einem möglichen Wendepunkt in dem Konflikt, der als der international folgenreichste seit Ende des Kalten Krieges gilt.

Dass sich die Beteiligten dort rasch einigten, die Waffen schweigen zu lassen und zudem Hunderte Gefangene auszutauschen, sorgte auch in Moskau für ein Stimmungshoch. Immerhin warnt Kremlchef Wladimir Putin die ukrainische Führung seit Monaten, der Konflikt sei auf keinen Fall militärisch, sondern nur politisch durch Verhandlungen mit den Separatisten lösbar. Lange hat Poroschenko jedes Zugeständnis an die «Terroristen» abgelehnt – bis zu seinem jüngsten Telefonat mit Putin am Mittwoch dieser Woche.

Separisten behalten Waffen
Beide verglichen ihre Friedenspläne mit unterschiedlicher Länge und verschiedenen Akzenten und stellten nach Kremlangaben zuletzt einige Gemeinsamkeiten fest. Wer ist nun der politische Sieger? Poroschenko musste auf seine Kernforderung verzichten: die Entwaffnung der Aufständischen. Die Separatisten behalten nach dem «Pakt von Minsk» ihre Waffen. Und sie machten deutlich, dass sie keineswegs von ihren Zielen eines Sonderstatus für die Ostukraine abrücken wollen. Die konkreten Verhandlungen über die Zukunft der Ostukraine sollen erst noch beginnen. Dass die Anführer der von Kiew nicht anerkannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk nun aber überhaupt auf Augenhöhe mit Emissären aus Kiew ein Zwölf-Punkte-Papier für erste Schritte aus der Krise unterzeichnen durften, sehen Kommentatoren als klaren Teilsieg Putins. Jetzt solle auch die Europäische Union überlegen, ob sie Russland weiter mit Wirtschaftssanktionen bestrafe, meint Russlands Botschafter bei der EU, Wladimir Tschischow.

Vor allem Ultranationalisten im Umfeld des ukrainischen Präsidenten warnen, dass sich die Abspaltungstendenzen in der Ostukraine nur verstärken könnten. Wegen der komplizierten Befehlsstrukturen, auch bei den regierungstreuen Truppen, gilt es zudem als äusserst unsicher, ob die Waffen tatsächlich schweigen. Die Russen befürchten, dass Privatarmeen der regierungstreuen Oligarchen oder die radikale Kampftruppe des Rechten Sektors querschlagen könnten. Auch bei den Separatisten hört nicht jeder auf das Kommando des Kreml. «Es gibt keinen anderen Weg als Frieden. Es reicht mit der Kämpferei», betonte der frühere ukrainische Präsident Leonid Kutschma, der im Auftrag Poroschenkos in Minsk verhandelte. Die ebenfalls in der Kontaktgruppe vertretene Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) soll die Waffenruhe überwachen. Doch das Misstrauen auf beiden Seiten des Konflikts bleibt.

Regierung und Separatisten haben stets davor gewarnt, dass Feuerpausen dazu dienen könnten, die Kräfte neu zu ordnen. «Die Zeit bis zum Bruch des Waffenstillstands kann wenige Tage aber auch mehrere Monate dauern», sagte der ukrainische Politologe Taras Beresowez. Die Ukraine müsse diese Zeit für Reformen der Streitkräfte nutzten und sich weiter um Waffen aus Nato-Ländern bemühen, meinte er. Und auch an diesem Tag der Hoffnung wollte letztlich keiner ausschliessen, dass es am Ende zu einem noch schlimmeren Krieg kommt. Kurz vor der Bekanntgabe der Waffenruhe forderte der ukrainische Regierungschef Arseni Jazenjuk in einer Kabinettssitzung in Kiew, die USA und die EU müssten als Garanten der Waffenruhe auftreten. «Wir werden das nicht mit Russland allein hinkriegen», sagte Jazenjuk. «Wir brauchen Garantien.»

EU wartet mit neuen Sanktionen zu

Am Freitag berieten die EU-Botschafter in Brüssel erneut über eine Verschärfung der Sanktionen. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel stellte Russland eine Aussetzung der geplanten neuen Sanktionen in Aussicht, falls es tatsächlich zu einem Waffenstillstand und einer deutlichen Entspannung der Lage in der Ostukraine kommt. «Es ist alles im Fluss», sagte Merkel am Freitag beim NATO-Gipfel im walisischen Newport. Für einen echten Waffenstillstand reiche ein Beschluss allein nicht aus. Es müsse geklärt werden, ob die Waffenruhe eingehalten werde, ob sich russische Truppen, so sie vor Ort seien, zurückzögen und ob Pufferzonen eingerichtet würden. «Deshalb muss man damit rechnen, dass diese Sanktionen durchaus in Kraft gesetzt werden könnten», betonte Merkel. «Aber dann auch mit der Massgabe, dass sie auch wieder suspendiert werden können, wenn wir sehen, dass dieser Prozess wirklich abläuft».

Nato schafft schnelle Eingreiftruppe
Die Nato hat am Vormittag die Schaffung einer sehr schnell einsetzbaren Truppe beschlossen, um innerhalb weniger Tage auf Bedrohungen reagieren zu können.  Damit besinnt sie sich in der Ukraine-Krise wieder auf Mittel der Abschreckung. Die Staats- und Regierungschefs der 28 Alliierten beschlossen am Freitag auf ihrem Gipfel in Wales den sogenannten Readyness Action Plan (sinngemäss Plan für höhere Bereitschaft). Er zielt auf den Schutz der ost- und mitteleuropäischen Partner, die sich von Russland bedroht fühlen. Zentrales Element ist eine «Speerspitze» der schnellen Eingreiftruppe (Nato Response Force). Es geht um mehrere Tausend – vermutlich 3000 bis 5000 – Soldaten aller Waffengattungen, die im Krisenfall binnen zwei bis fünf Tagen in Einsatzbereitschaft versetzt werden können, erläuterte Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen. Die Soldaten der Einheiten sollen nur mit leichtem Gepäck ausgerüstet sein. Fahrzeuge, Waffen, Munition und andere Ausrüstung werden den Plänen zufolge in möglichen Einsatzländern gelagert. Die «Speerspitze» soll abwechselnd von mehreren Verbündeten gestellt werden.

Besinnung auf Gründungsakte
Damit will das Bündnis an den Regeln der Gründungsakte des Nato-Russlands-Rates von Mai 1997 festhalten. Der Vertrag verbietet der Allianz, dauerhaft Kampftruppen in Ost- und Mitteleuropa zu stationieren. «Wir haben keine Entscheidung getroffen, uns von der Nato-Russland-Akte abzuwenden», sagte Rasmussen. In Polen, den baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen sowie in Rumänien gab es Stimmen, den Vertrag aufzukündigen, den Russland ihrer Ansicht nach durch seine Aggressionspolitik gebrochen hat. Nun werden dort nach den Worten Rasmussens Stützpunkte für die «Speerspitze» ausgebaut und zeitweise mehr Nato-Soldaten stationiert. «Unsere Präsenz im Osten wird sichtbarer.» Das Bündnis hat die Beziehungen zu Moskau nach der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim auf Eis gelegt und beobachtet mit Sorge, wie Russland offensichtlich Separatisten in der Ostukraine unterstützt.

Die Verteidigungsausgaben der Nato haben seit 1990 stetig abgenommen. Vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise werden Forderungen nach einer Trendumkehr lauter. Zwischen 1990 und 1994 lag der Anteil der Ausgaben für Soldaten und Rüstungsgüter am BIP noch bei 2,5 Prozent in Europa und bei 4,5 Prozent in den USA. 2013 lag der Anteil nur noch 1,6 Prozent in Europa, während die USA 4,4 Prozent ausgaben. 2013 wurde der von der Nato angestrebte Anteil von zwei Prozent nur von den USA (4,4), Grossbritannien (2,4), Griechenland (2,3) und Estland (2,0 Prozent) erreicht. Deutschland kam auf 1,3 Prozent.

Auch gegen IS vorgehen
Die Gipfelrunde wollte auch über Massnahmen gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) beraten. «Es sollte völlig klar sein: Diese Terroristen, ihre Drohungen werden unsere Entschlossenheit nur verstärken, für unsere Werte einzustehen und sie zu verteidigen», sagte Cameron. Er rief dazu auf, Geiseln in den Händen von Terroristen nicht mit Lösegeldern freizukaufen. Das helfe ihnen nur, weitere Geiselnahmen vorzubereiten und Anschläge zu planen. Die britische Regierung schätzt, dass Terroristen in den vergangenen fünf Jahren mindestens 60 Millionen US-Dollar (gut 46 Millionen Euro) an Lösegeldern eingenommen haben.(awp/mc/cs)

 

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