Moskau / Salechard – Vor dem Stacheldraht des sibirischen Straflagers hat die Mutter des toten Kremlkritikers Alexej Nawalny in einem emotionalen Videoappell Russlands Präsident Wladimir Putin zur Herausgabe der Leiche ihres Sohnes aufgefordert. «Ich wende mich an Sie, Wladimir Putin. Die Entscheidung der Frage hängt nur von Ihnen ab. Lassen Sie mich doch endlich meinen Sohn sehen», sagte Ljudmila Nawalnaja. Schon den fünften Tag warte sie darauf, Nawalny sehen zu dürfen, sagte sie in der am Dienstag veröffentlichen Videobotschaft. In dem Lager nördlich des Polarkreises war der Politiker am vergangenen Freitag unter noch ungeklärten Umständen ums Leben gekommen.
«Ich fordere, unverzüglich den Körper Alexejs herauszugeben, damit ich ihn auf menschliche Weise beerdigen kann», sagte sie. Sie erhalte bisher weder den Leichnam noch werde ihr gesagt, wo der Körper aufbewahrt werde. Nach der kurzen Ansprache der von Trauer sichtlich gezeichneten Nawalnaja war in dem Video hinter dem Stacheldraht die orthodoxe Kirche auf dem Gelände des Straflagers zu sehen. Nach russisch-orthodoxem Brauch werden Verstorbene eigentlich spätestens am dritten Tag nach ihrem Ableben beerdigt.
Behörden verweigern Zugang zur Leiche
Die Behörden verweigern den Angehörigen trotz auch internationaler Proteste bis heute den Zugang zu Nawalnys Leiche. Sein Team, das dem russischen Machtapparat Mord vorwirft, sieht darin einen Vertuschungsversuch. In Russland haben bereits mehr als 70 000 Menschen einen Aufruf zur Herausgabe des Leichnams an die Angehörigen unterzeichnet.
Zu dem Aufruf und der Bitte von Nawalnajas Mutter hat sich der Kreml bislang nicht geäussert. Stattdessen hat Kremlsprecher Dmitri Peskow in Moskau die Vorwürfe von Nawalnys Witwe Julia Nawalnaja als «unbegründet und unverschämt» zurückgewiesen. Die 47-Jährige hatte am Montag in einer Videobotschaft Putin für den Tod Nawalnys im Straflager mit dem inoffiziellen Namen «Polarwolf» verantwortlich gemacht und angekündigt, den Kampf ihres Manns gegen das System des Kremlchefs fortzusetzen.
Tod in Strafkolonie
Nawalny ist am Freitag im Straflager in der sibirischen Arktisregion Jamal ums Leben gekommen. Der durch einen Giftanschlag im Jahr 2020 und wiederholte Einzelhaft im Lager geschwächte Politiker soll bei einem Rundgang auf dem eisigen Gefängnishof zusammengebrochen und trotz Wiederbelebungsversuchen gestorben sein. Nawalny war zum Zeitpunkt des Todes 47 Jahre alt.
Peskow sagte, dass weder er noch Putin die Videobotschaft angeschaut hätten. Vor dem Hintergrund, dass «Julia Nawalnaja gerade verwitwet ist», wolle er sich mit Kommentaren zurückhalten. Zugleich verteidigte der Kremlsprecher das brutale Vorgehen von Sicherheitskräften gegen Russen, die in vielen Städten des Landes zum Andenken an den gestorbenen Putin-Gegner Blumen niederlegten und Kerzen anzündeten. Die Uniformierten hätten ihre Aufgabe im Einklang mit den Gesetzen erfüllt, meinte Peskow.
Kritik an Beförderung von Strafvollzugsbeamten
Die zeitgleiche Beförderung ranghoher Beamter des Strafvollzugs durch Putin löste derweil heftige Kritik aus. Der zum Generaloberst des Innenministeriums beförderte Vizechef der Gefängnisbehörde FSIN, Waleri Bojarinew, sei persönlich für die Folterungen Nawalnys im Gefängnis verantwortlich gewesen, schrieb der Direktor des von Nawalny gegründeten Fonds zur Bekämpfung der Korruption (FBK), Iwan Schdanow, auf seinem Telegram-Kanal. «Das muss man wohl als offene Belohnung Putins für die Folter verstehen.»
Im Juli 2023 war im Zuge einer Gerichtsverhandlung gegen Nawalny eine Anordnung Bojarinews bekanntgeworden, den Oppositionspolitiker beim Kauf von Lebensmitteln und täglichen Bedarfsgütern einzuschränken. Normalerweise können Häftlinge mit ihrem Geld ihre eigene spärliche Ration im Gefängnisladen etwas aufbessern. Laut Schdanow war der neu ernannte Generaloberst auch für weitere Schikanen gegen Nawalny verantwortlich.
Die Beförderung des 53-Jährigen wurde am Montag durch die Veröffentlichung des Präsidentendekrets in der Gesetzesdatenbank bekannt. Neben Bojarinew wurden noch drei weitere Strafvollzugsbeamte im Generalsrang befördert. Kremlsprecher Dmitri Peskow dementierte einen Zusammenhang zwischen dem Tod Nawalnys und den Beförderungen. Diese seien ein ganz gewöhnlicher Vorgang, sagte er.
Im Kampf um die Meinungshoheit hat der Kreml dabei unerwartete Schützenhilfe von der Plattform X bekommen – allerdings nur kurzzeitig. Diese sperrte am Dienstagnachmittag für fast eine Stunde das erst einen Tag zuvor angelegte Profil von Nawalnaja. Begründung war ein angeblicher, nicht näher benannter Verstoss gegen die Regeln des sozialen Netzwerks. Erst nach Protest von Nawalnys Team wurde das Profil wieder freigegeben. (awp/mc/pg)