Moskau – Der russische Präsident Wladimir Putin hat den Angriffskrieg gegen die Ukraine bei einer Militärparade in Moskau mit einer Bedrohung durch die Nato begründet. Das westliche Militärbündnis habe über die Jahre eine für Russland «absolut nicht hinnehmbare Bedrohung» geschaffen, sagte er am Montag in seiner mit Spannung erwarteten Ansprache auf dem Roten Platz zum 77. Jahrestag des Sieges der Sowjetunion über Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg. «Der Block der Nato hat eine aktive militärische Erschliessung der an unser Gebiet angrenzenden Territorien begonnen», sagte Putin. Russland habe präventiv eine Aggression des Westens abgewehrt. «Das war die einzig richtige Entscheidung.»
Am 24. Februar hatte der Kremlchef einen Einmarsch in der Ukraine befohlen – unter anderem mit der Begründung, dass die in die Nato strebende Ex-Sowjetrepublik «entmilitarisiert» werden müsse. Alles habe darauf hingewiesen, dass eine Konfrontation mit den «Neonazis» in Kiew, auf die die USA gesetzt hätten, unausweichlich gewesen sei, meinte er. Putin behauptete, ein Angriff von ukrainischer Seite auf die prorussischen Separatistengebiete in den Regionen Luhansk und Donezk habe unmittelbar bevorgestanden – auch auf die Schwarzmeer-Halbinsel Krim, die Russland 2014 annektiert hatte.
Die vom Westen mit Waffen unterstützte Ukraine hatte allerdings stets zurückgewiesen, sich die abtrünnigen Gebiete Luhansk und Donezk mit Gewalt zurückholen zu wollen. Die Regierung in Kiew wirft Putin einen Vernichtungskrieg vor; er wolle die Ukraine als Land zerstören.
«Die Staaten der Nato wollen uns nicht hören»
Putin warf der Ukraine in seiner Rede erneut auch vor, eine Wiedererlangung von Atomwaffen angestrebt zu haben. Mit Blick auf die Nato beklagte der 69-Jährige, dass Russland dem Westen im Dezember einen Vertrag über Sicherheitsgarantien, einen Dialog und die gegenseitige Wahrung von Interessen vorgeschlagen habe. «Alles umsonst», sagte Putin vor Tausenden Soldaten in Paradeuniform. «Die Staaten der Nato wollten uns nicht hören. Und das heisst, dass sie völlig andere Pläne hatten», meinte er.
Keine Teil- oder Generalmobilmachung
Moskau sieht sich im Krieg mit dem Westen, der mittels Sanktionen und Waffenlieferungen versuche, Russland in die Knie zu zwingen. Anders als von einigen westlichen Beobachtern befürchtet, ordnete Putin allerdings keine Teil- oder Generalmobilmachung an, um der von ihm so bezeichneten «militärischen Spezial-Operation» neuen Schwung zu verleihen. Aus Moskauer Sicht zufriedenstellende Fortschritte gibt es bei dem russischen Vormarsch seit langem nicht.
Würdigung der im Donbass kämpfenden Soldaten
Putin würdigte in seiner Rede die russischen Soldaten im Donbass, die dort für die Sicherheit des Landes kämpften. Einige Vertreter der Streitkräfte nahmen demnach auch an der Parade auf dem Roten Platz teil. Zugleich räumte Putin Verluste ein und sicherte den Familien der «Gefallenen und Verwundeten» Hilfen zu. Offiziell ist bisher die Rede von 1351 getöteten Soldaten. Westliche Militärexperten gehen hingegen davon aus, dass mehrere Tausend russische Soldaten bei den Kämpfen in der Ukraine gestorben sind.
Warnung vor neuem Weltkrieg
Der Präsident warnte bei dem Gedenken an den Zweiten Weltkrieg einmal mehr auch vor einem neuen Weltkrieg. Der damalige Kampf bedeute nicht nur die Verpflichtung, das Andenken derer zu erhalten, die den Nazismus besiegt hätten. Aufgabe sei es, «wachsam zu sein und alles zu tun, damit sich die Schrecken eines globalen Krieges nicht wiederholen», sagte er. Er unterhielt sich am Rande der Parade auch mit Veteranen des Zweiten Weltkriegs, denen er die Hand schüttelte.
Putin gedachte auf dem Roten Platz und später im Alexandergarten am Grab des Unbekannten Soldaten in einer Schweigeminute der Kriegstoten. An der ewigen Flamme erinnerte er an die Opfer des Weltkrieges mit einem Kranz – und legte an Gedenksteinen der Heldenstädte der Sowjetunion, darunter auch die ukrainische Hauptstadt Kiew, Nelken nieder.
Flugshow entfällt
Die mit einem Grossaufgebot an Uniformierten gesicherte Innenstadt von Moskau glich einer Festung. Zehntausende Menschen waren auf den Beinen, um die mit der Militärparade verbundene Waffenschau zu verfolgen. Zu sehen waren nach Angaben des Verteidigungsministeriums auch die in der Ukraine eingesetzten Iskander-Raketen, Kampfpanzer wie der modernste vom Typ T-14, die Luftabwehrsysteme S-400, Buk-M3 und Tor-M2, Kampfroboter vom Typ Uran-9 und mit Atomsprengköpfen bestückbare Interkontinentalraketen. Eine gross geplante Flugshow fiel in Moskau kurzfristig aus – zu schlechtes Wetter war die offizielle Begründung.
«Tag des Sieges»
Am 8. Mai 1945 war der Zweite Weltkrieg in Europa mit der Kapitulation der deutschen Wehrmacht zu Ende gegangen. Russland begeht am 9. Mai mit dem «Tag des Sieges» über Nazi-Deutschland traditionell seinen wichtigsten Feiertag. Paraden zur Erinnerung an den sowjetischen Sieg im Zweiten Weltkrieg gab es insgesamt in 28 russischen Städten.
In Moskau sagte Putin auch, dass der Sieg damals gemeinsam mit den westlichen Alliierten errungen wurde. Zugleich beklagte er aber eine im Westen herrschende «Russophobie» bei den politischen Eliten. «Uns ist bekannt, dass den amerikanischen Veteranen, die zur Moskauer Parade anreisen wollten, das faktisch verboten wurde», behauptete Putin.
In seiner Rede stellte Putin auch die aus der Ukraine stammende sowjetische Scharfschützin Ljudmila Pawljutschenko und den ukrainisch-sowjetischen Partisanenführer Sidor Kowpak in eine Reihe mit russischen Heerführern. Zudem erwähnte er den als Befreier Kiews geltenden General Nikolaj Watutin, dem unweit des ukrainischen Parlaments ein Denkmal gewidmet und unter dem er beigesetzt ist. Infolge des russischen Angriffskrieges sind der Abriss des Denkmals und eine Umbettung Watutins auf einen Militärfriedhof in der Diskussion. Dazu soll auch eine Gedenktafel für Kowpak entfernt werden.
Selenskyj plant ebenfalls «Siegesparade»
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj kündigte an, selbst eine Siegesparade organisieren zu wollen, sobald Russland als Feind geschlagen sei. (awp/mc/pg)