Nur die Angst ist schneller als das Virus: China zieht Notbremse

Nur die Angst ist schneller als das Virus: China zieht Notbremse

Peking – China ergreift radikale Massnahmen: 45 Millionen Menschen abgeriegelt, Strassen gesperrt, Überlandverkehr gestoppt, Mundschutz vorgeschrieben und «zentrale Quarantäne». Präsident Xi warnt vor «ernster Lage».

Noch vor einer Woche spielten Chinas höchste Gesundheitswächter die Gefahr herunter. Die neue Lungenkrankheit sei «vermeidbar und kontrollierbar», wurde beschwichtigt. Mittlerweile herrscht praktisch Notstand, hat das neue Coronavirus hat fast jede Ecke des Riesenreichs erreicht.

Rund 45 Millionen Menschen sind in 14 Metropolen der Provinz Hubei weitgehend von der Aussenwelt abgeschottet. Der Nah- und Fernverkehr, Züge und Flüge – alles eingestellt. Die Polizei stoppt Autos an Strassensperren. Beispiellose, drastische Massnahmen, die an Hollywood-Streifen über katastrophale Epidemien erinnert.

Bis Montagwaren in China über 2700 Infektionen bestätigt, die Zahl der Todesopfer stieg auf 80. Selbst in Peking, Shanghai und grossen Provinzen wie Shandong, Shanxi und Hebei wurde der Überlandverkehr mit Bussen ausgesetzt, um zumindest teilweise ein Einschleppen des Virus zu verhindern. Wer kürzlich in Wuhan war, muss 14 Tage zur medizinischen Beobachtung daheim bleiben. Die Provinz Guangdong erliess für seine 113 Millionen Einwohner sogar die generelle Pflicht, in Einkaufszentren, Hotels, Parks und anderen öffentlichen Orten einen Mundschutz zu tragen.

Angst, vor die Tür zu gehen
Selbst in der fernen Hauptstadt trägt fast jeder eine Gesichtsmaske. Freiwillig – obwohl es in Peking erst einige Dutzend Fälle gibt. Die Angst ist schneller als das Virus. Zwar ist während des chinesischen Neujahrsfestes immer wenig los, aber Pekings Strassen sind wie ausgestorben. «Ich traue mich nicht vor die Tür», sagt die Angestellte Zhang Li. «Aber wer raus geht, sollte zumindest eine Atemmaske tragen.» Vorsichtshalber verschiebt die Hauptstadt auch den Mitte Februar geplanten Beginn der Schulen, Universitäten und Kindergärten nach den Neujahrsferien. Auf unbestimmte Zeit.

Wie gross die Gefahr eingeschätzt wird, demonstriert auch die Verschiebung der nationalen Winterspiele, die eigentlich eine wichtige Vorbereitung auf die Olympischen Winterspiele 2022 in Peking werden sollten. Die radikalen Massnahmen erinnern an die Sars-Pandemie 2003. Damals war der Ausbruch erst monatelang vertuscht worden, aber am Ende wurde das ganze Land praktisch stillgelegt, was die tödliche Lungenkrankheit unter Kontrolle brachte. Doch 800 Menschen starben.

Aufgeschreckt durch Inkubationszeit
Dass auch diesmal die Behörden zu langsam reagiert haben, wird selbst der kommunistischen Führung in Peking bewusst. Aufgeschreckt hat sicher auch die jüngste Erkenntnis, dass Infizierte schon in der Inkubationszeit ansteckend sind, selbst wenn sie keine Symptome zeigen. In einer ungewöhnlichen Krisensitzung des Politbüros am Samstag, dem Neujahrstag, rief Staats- und Parteichef Xi Jinping die lokalen Funktionäre auf, «energischere Massnahmen» zu ergreifen.

Er warnte vor einer «ernsten Lage». Alle Ebenen von Partei und Regierung müssten dem Kampf gegen das Virus «höchste Priorität» einräumen, mahnte Xi Jinping. Auch müssten die Virus-Patienten in «zentrale Quarantäne» an einem Ort kommen. Dafür werden in der besonders schwer betroffenen Metropole Wuhan rund um die Uhr in Schnellbauweise zwei Spitäler gebaut. Sie sollen in ein bis zwei Wochen fertig sein und mehr als 2000 Patienten Platz bieten.

Wird sonst in China jede Kritik «harmonisiert», das heisst zensiert, sind jetzt durchaus Klagen über die langsame Reaktion zu lesen. Prominentester Kritiker ist Hu Xijin, Chefredakteur der «Global Times», die vom Parteiorgan «Volkszeitung» herausgegeben wird: «Ich persönlich glaube, dass die Stadt Wuhan und die nationalen Gesundheitsbehörden verantwortlich gemacht werden sollten.»

Ärzte warnten bereits vor Wochen
Kritik kommt auch von Ärzten der völlig überforderten Hospitäler in Wuhan. Schon vor zwei Wochen sei die Zahl der Patienten gestiegen, ohne dass lokale Funktionäre sie gemeldet hätten. «Als wir warnten und Patienten und die Öffentlichkeit aufforderten, Atemmasken zu tragen und überfüllte Orte zu meiden, haben sie es nicht ernst genommen und gedacht, dass wir übertreiben», zitierte die Hongkonger Zeitung «South China Morning Post» einen verärgerten Mediziner.

Es liegt in der Natur des kommunistischen Systems, dass unangenehme Nachrichten lieber verschwiegen werden. Doch damit solle jetzt Schluss sein, forderte selbst das Politbüro. Behörden sollten Informationen «zeitgemäss, korrekt und transparent» veröffentlichen, um den Sorgen im In- und Ausland zu begegnen.

Den Unmut von ganz oben bekam umgehend der Chef des Gesundheitsamtes der Fünf-Millionen-Metropole Yueyang, 230 Kilometer südlich von Wuhan, zu spüren. Er wurde als erster gefeuert, weil er Informationen über den Ausbruch des Virus in seiner Stadt zurückgehalten hatte. (awp/mc/ps)

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