Pentagon-Chef spricht mit russischem Kollegen
Washington / Kiew – US-Verteidigungsminister Lloyd Austin hat nach Drohungen Moskaus in einem seltenen Austausch mit seinem russischen Kollegen gesprochen. Während des Gesprächs mit Andrej Beloussow habe Austin betont, dass es angesichts des russischen Angriffskriegs in der Ukraine wichtig sei, die Kommunikation aufrechtzuerhalten, sagte Pentagon-Sprecher Pat Ryder am Dienstag. Weitere Details zu dem Telefonat nannte er nicht.
Das russische Verteidigungsministerium teilte in der Nacht zum Mittwoch mit, dass sich beide Seiten über den Krieg in der Ukraine ausgetauscht hätten. Beloussow habe dabei im Zusammenhang mit den fortlaufenden US-Waffenlieferungen an die Ukraine auf die zunehmende Gefahr einer Eskalation der Lage in dem Land hingewiesen. Es seien auch andere Frage besprochen worden. Details nannte das Ministerium in Moskau nicht.
Moskau hatte Washington am Montag nach einem ukrainischen Raketenangriff auf die Stadt Sewastopol auf der seit 2014 von Russland annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim gedroht. «Es versteht sich, dass die unmittelbare Beteiligung der USA an Kampfhandlungen, in deren Ergebnis russische Zivilisten ums Leben kommen, nicht ohne Folgen bleiben kann», sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow. Das russische Aussenministerium bestellte zugleich die US-Botschafterin in Moskau, Lynne Tracy, ein und übergab ihr eine Protestnote.
Konkrete Angaben zu den Folgen für Washington machte Moskau nicht. Allerdings beklagt die russische Führung seit langem, dass sich die USA zunehmend zum Kriegsbeteiligten würden.
Nach Angaben des Pentagons ging die Initiative für das Gespräch von Austin aus. Ryder zufolge hat Austin das letzte Mal am 15. März 2023 mit seinem russischen Kollegen gesprochen. Damals war noch Sergej Schoigu russischer Verteidigungsminister. Er war nach zahlreichen Skandalen um Korruption und Amtsmissbrauch auf den Posten des Sekretärs des nationalen russischen Sicherheitsrats gewechselt. Der Ökonom Beloussow soll dafür sorgen, dass die Militärausgaben effektiv für die Kriegswirtschaft und die Kämpfe an der Front eingesetzt werden.
Ukraine und Russland tauschen Kriegsgefangene aus – 180 insgesamt
Unterdessen haben die Ukraine und Russland bei einem weiteren Austausch von Kriegsgefangenen jeweils 90 Soldaten wieder in ihre Heimat entlassen. «Unsere Leute sind zuhause», teilte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj im sozialen Netzwerk X mit.
Es handelt sich demnach um Soldaten verschiedener Einheiten der Streitkräfte, einige von ihnen haben auch in Mariupol gekämpft, bevor der Russen die Stadt einnahmen. Die Heimkehrer hätten in den Gebieten Cherson, Donezk, Saporischschja und Luhansk gegen die russische Invasion gekämpft.
«Wir denken an all unsere Menschen in russischer Gefangenschaft. Wir setzen unsere Arbeit fort, um alle herauszukommen», sagte Selenskyj. Er dankte wie das russische Verteidigungsministerium in einer Mitteilung den Vereinigten Arabischen Emiraten für die Rolle als Vermittler. Beide Seiten veröffentlichten Video von den freigelassenen und glücklichen Soldaten.
90 russische Kriegsgefangene seien von der Ukraine übergeben worden, teilte das Verteidigungsministerium in Moskau mit. Die Männer seien mit militärischen Transportflugzeugen nach Moskau gebracht worden für eine Behandlung und Rehabilitation in medizinischen Einrichtungen.
Die Gespräche zum Austausch von Kriegsgefangen gehören zu den letzten noch verbliebenen Kontakte zwischen den Konfliktparteien. Kremlchef Wladimir Putin, der den Krieg vor mehr als zwei Jahren am 24. Februar 2022 begonnen hatte, gab die Zahl der russischen Soldaten in ukrainischer Gefangenschaft Anfang des Monats mit 1348 an. Die Zahl der ukrainischen Kriegsgefangenen auf russischer Seite liege dagegen bei mehr als 6000, sagte er.
Selenskyj begrüsst erneut EU-Beitrittsverhandlungen
Auch in seiner abendlichen Videobotschaft sicherte Selenskyj einmal mehr zu, den Verbleib der ukrainischen Gefangenen aufzuklären und sie nach Hause zu holen. In dem Video unterstrich er erneut, dass die Ukraine für eine Zukunft in Europa kämpfe. Dazu begrüsste er wie schon in anderen Mitteilungen tagsüber am Dienstag den Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen. Das Land werde alles tun, um die Voraussetzung für eine Aufnahme in die Europäische Union zu erfüllen.
Davor hatte er schon mit anderen Vertretern der ukrainischen Führung ebenfalls in einem Video den Start der Verhandlungen gelobt. «Heute ist der Tag, auf den wir alle lange und hart hingearbeitet haben – die gesamte Mannschaft der Ukraine», sagte Selenskyj in der Aufnahme vor seinem Amtssitz in Kiew. Das Land habe nun die definitive Gewissheit, ein vollwertiges Mitglied der EU zu werden. Dabei erinnerte der Staatschef an die Unterzeichnung des Beitrittsgesuchs am fünften Tag der russischen Invasion Ende Februar 2022. Mit Selenskyj waren Regierungschef Denys Schmyhal und Parlamentspräsident Ruslan Stefantschuk auf dem Video zu sehen.
«Viele haben gesagt, das ist nicht mehr als ein Traum», sagte Selenskyj. Nach «Tausenden von Treffen und Telefonaten» habe Kiew jedoch die Bedingungen für die Aufnahme der Gespräche dank der Entschlossenheit des ukrainischen Volkes erfüllt. «Wir werden dieses Ziel – wie auch alle anderen unsere Ziele – definitiv erreichen», sagte Ministerpräsident Schmyhal.
Parlamentspräsident Stefantschuk meinte, dass die Ukraine den Prozess in Rekordzeit absolvieren werde. «Wir haben alle notwendigen Gesetze verabschiedet und werden das auch weiter tun, damit die Ukraine nie wieder vom europäischen Haus gelöst wird», unterstrich Stefantschuk. Der ukrainische Beitritt sorge für eine stabile und sichere Zukunft Europas.
Die Ukraine hatte kurz nach dem russischen Überfall vor über zwei Jahren ein Beitrittsgesuch bei der Europäischen Union gestellt. Das osteuropäische Land wurde bereits im Juni 2022 ein offizieller Beitrittskandidat; Ende 2023 empfahl der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs die Aufnahme von Beitrittsgesprächen. Die Ukraine gilt als ärmstes Land Europas, dessen Haushalt schon jetzt zu einem grossen Teil vom Ausland finanziert wird.
Wie lange es nach einem Start der Gespräche bis zum EU-Beitritt dauern könnte, ist völlig offen. Theoretisch kann ein Beitrittskandidat auch nie Mitglied werden. Bei der Ukraine gilt es derzeit so auch als ausgeschlossen, dass sie vor dem Ende des russischen Angriffskriegs EU-Mitglied wird. Denn dann könnte Kiew nach Artikel 42, Absatz 7 des EU-Vertrags militärischen Beistand einfordern – und die EU wäre Kriegspartei. (awp/mc/pg)