Biden beklagt «Völkermord» in der Ukraine – Kiew-Ärger in Berlin

US-Präsident Joe Biden.

Kiew – US-Präsident Joe Biden hat Russland wegen der Kriegsgräuel in der Ukraine erstmals «Völkermord» vorgeworfen. Die Beweise dafür häuften sich, sagte Biden in der Nacht zum Mittwoch deutscher Zeit. Im Kriegsgebiet toben weiter Kämpfe, vor allem um die Hafenstadt Mariupol. Die Ukraine befürchtet eine grosse russische Offensive im Osten und forderte zur Abwehr abermals schwere Waffen aus Deutschland. In Berlin herrscht jedoch Ärger wegen der Absage aus Kiew an einen Besuch von Bundespräsident Frank-Walter-Steinmeier.

Steinmeier hatte erklärt, er habe in die Ukraine reisen wollen, das sei aber dort nicht gewünscht gewesen. Die Präsidenten aus Polen, Litauen, Lettland und Estland machten sich nach polnischen Angaben am Mittwoch ohne den deutschen Kollegen auf den Weg zu einem Treffen mit dem ukrainischen Staatschef Wolodymyr Selenskyj.

«Brauchen angemessenen Umgang»
Der SPD-Aussenpolitiker Nils Schmid nannte im Deutschlandfunk die Absage an Steinmeier «mehr als ärgerlich». Die Europäer wollten die Ukraine weiter unterstützen. Doch dafür brauche man «einen angemessenen Umgang untereinander». FDP-Vize Wolfgang Kubicki sagte der Deutschen Presse-Agentur, Selenskyj sei bei der Ablehnung des Besuchs wohl nicht gut beraten gewesen.

Der ukrainische Präsidentenberater Olexeij Arestowytsch versuchte im «Morgenmagazin», die Wogen zu glätten. Selenskyjs Entscheidungen seien sehr ausgewogen, sagte Arestowytsch laut Übersetzung. Wie zuvor schon der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk lud er anstelle Steinmeiers Bundeskanzler Olaf Scholz ein. «Unser Präsident erwartet den Bundeskanzler, damit er unmittelbar praktische Entscheidungen treffen könnte auch inklusive die Lieferung der Waffen.» Davon hänge das Schicksal von Mariupol und anderer Orte ab. Jede Minute zähle.

Raketen auf Mariupol
Um Mariupol wurde nach Darstellung beider Seiten heftig gekämpft. Das ukrainische Militär berichtete von neuen russischen Luftangriffen auf die seit Wochen belagerte und inzwischen weitgehend zerstörte südostukrainische Stadt. Weiter hiess es zudem, die ostukrainische Grossstadt Charkiw sei von russischer Artillerie beschossen worden.

Das russische Verteidigungsministerium meldete, in Mariupol hätten sich über 1000 ukrainische Soldaten ergeben. Zudem hiess es, es habe neue Raketenangriffe von russischen Flugzeugen und Kriegsschiffen aus gegeben. Insgesamt seien 46 weitere Militärobjekte in der Ukraine vernichtet worden. Die Angaben der Kriegsparteien sind kaum unabhängig zu überprüfen.

«Ich habe es Völkermord genannt»
Russland hatte das Nachbarland vor knapp sieben Wochen angegriffen. Um sich für die Offensive im Osten neu zu formieren, hat sich das russische Militär inzwischen aus der Umgebung der Hauptstadt Kiew zurückgezogen. Dort wurden anschliessend grossflächige Zerstörungen, Massengräber und Leichen in den Strassen gefunden.

«Ich habe es Völkermord genannt, denn es wird klarer und klarer, dass (der russische Präsident Wladimir) Putin einfach versucht, die Idee, überhaupt Ukrainer sein zu können, einfach auszuradieren», sagte US-Präsident Biden im US-Staat Iowa. «Es kommen buchstäblich immer mehr Beweise für die schrecklichen Dinge ans Licht, die die Russen in der Ukraine getan haben.» Letztlich müssten aber Juristen auf internationaler Ebene entscheiden, ob es sich um Genozid handele.

«Gegen das Böse behaupten»
Selenskyj lobte auf Twitter Bidens Worte: «Die Dinge beim Namen zu nennen ist wichtig, wenn man sich gegen das Böse behaupten will.» In einer Videoansprache verglich Selenskyj die russische Belagerung von Mariupol mit der Blockade von Leningrad (heute St. Petersburg) durch die deutsche Wehrmacht zwischen 1941 und 1944, die als eines der schlimmsten NS-Kriegsverbrechen gilt.

Der ukrainische Präsident forderte zudem vorbeugende Schritte gegen den möglichen Einsatz von Massenvernichtungswaffen durch Russland. Er verwies auf Berichte aus Mariupol vom Vortag, wonach Russland dort mit einer nicht identifizierten chemischen Substanz angegriffen habe. Über diesen möglichen Chemiewaffeneinsatz äusserte sich auch die Kontrollbehörde OPCW in Den Haag besorgt.

«Jetzt muss das Zeug da runter»
In Deutschland steigt die Zahl der Flüchtlinge aus der Ukraine weiter, allerdings nicht mehr so schnell wie in den ersten Wochen des Kriegs. Bis Mittwoch stellte die Bundespolizei 339’655 Geflüchtete fest, wie das Bundesinnenministerium auf Twitter mitteilte. Das sind etwa 4000 mehr als am Vortag.

Topthema hier für die Ampel-Koalition ist derzeit eher, wie die Ukraine stärker unterstützt werden kann. Die Ukraine fordert unter anderem Kampfpanzer, Artilleriegeschütze und Luftabwehrsysteme. Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) warb auf ProSieben/SAT.1 für schnelle Waffenlieferungen: «Jetzt muss das Zeug da runter. Und so handeln wir auch.»

Auch die drei Ampel-Politiker Michael Roth (SPD), Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) und Anton Hofreiter (Grüne) plädierten nach einem Besuch in der Ukraine für weitere Waffenlieferungen und einen schnellstmöglichen Importstopp für russisches Öl. Der CDU-Aussenpolitiker Jürgen Hardt sagte mit Blick auf Waffen: «Deutschland sollte nicht das Land sein, das immer auf der Bremse steht.» In der ARD appellierte er direkt an Scholz. Der Kanzler hat sich bisher öffentlich nicht festgelegt.

Wachstum trotz Embargos?
Führende Wirtschaftsforschungsinstitute senkten am Mittwoch ihre Wachstumsprognose für dieses Jahr von 4,8 Prozent auf nur noch 2,7 Prozent. Sie sagten aber voraus, dass selbst bei einer sofortigen Unterbrechung russischer Gaslieferungen die Wirtschaftsleistung noch um 1,9 Prozent zunehmen würde. Andere Experten fürchten für diesen Fall eine Rezession.

Sorge herrscht auch, dass der Krieg die ukrainische Landwirtschaft lähmt, die zu den grössten Getreideproduzenten der Welt gehört. Die ukrainische Regierung betonte aber in der Nacht, ungeachtet der Kämpfe habe in fast allen Landesteilen die Frühjahrsaussaat begonnen. (awp/mc/ps)

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