Putin vor Offensive in der Ostukraine siegesgewiss – Gasangriff nicht bestätigt
Kiew/Blagoweschtschensk – Kurz vor der erwarteten Grossoffensive in der Ostukraine hat sich Russlands Präsident Wladimir Putin trotz zahlreicher Rückschläge in dem fast siebenwöchigen Krieg siegesgewiss gezeigt. Die Ziele der «Spezialoperation» würden erreicht, sagte Putin am Dienstag in der ostrussischen Stadt Blagoweschtschensk. «Daran gibt es keinen Zweifel.»
Der Kremlchef rechtfertigte erneut den Einmarsch, er diene der russischen Sicherheit: «Wir hatten keine andere Wahl», sagte Putin. Der Konflikt mit den «antirussischen Kräften in der Ukraine» sei nur eine Frage der Zeit gewesen. Der Westen sieht darin nur einen Vorwand für den Angriffskrieg.
Im Osten der Ukraine zeichnet sich nach Erkenntnissen westlicher und ukrainischer Militärs eine Grossoffensive mit Zehntausenden Soldaten und dem massiven Einsatz von Panzern, Artillerie und Luftwaffe ab – nur über den Zeitpunkt gibt es verschiedene Angaben. In der fast zerstörten Stadt Mariupol berichtete das ultranationalistische Asow-Regiment von einem Giftgasangriff der Russen. Eine Bestätigung gab es nicht, die USA und Grossbritannien reagierten aber besorgt. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier besuchte Polen, das bisher etwa 2,7 Millionen ukrainische Flüchtlinge aufgenommen hat.
Putin: Sanktionen können Russland nicht isolieren
Putin betonte bei einem Besuch des russischen Weltraumbahnhofs «Wostotschny» im äussersten Osten des Landes, dass sich Russland nicht vom Rest der Welt abschotten wolle. Auch die Sanktionen, mit denen der Westen auf die russische Invasion reagierte, könnten sein Land nicht isolieren. Putin ist zusammen mit dem belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko zur Besichtigung des Weltraumbahnhofs nahe der chinesischen Grenze geflogen. Die russische Armee nutzt Belarus als Aufmarschgebiet gegen die Ukraine und startet angeblich auch Luftangriffe von dort.
Erinnerungen an Panzerschlachten im Zweiten Weltkrieg
Russland habe seine Truppen in der Ostukraine zuletzt von 30 000 auf 40 000 Mann aufgestockt, hiess es vom US-Verteidigungsministerium. Die Truppen wollen nach Angaben aus Kiew bis an die Verwaltungsgrenzen des Gebiets Donezk vordringen. Moskau werde versuchen, Mariupol sowie die Kleinstadt Popasna im Gebiet Luhansk einzunehmen, teilte der ukrainische Generalstab mit. Das Kommando der ukrainischen Armee im Osten erklärte, man habe im Gebiet Donezk an sechs Stellen Angriffe abgewehrt. Die Ukraine hat dort besonders starke Truppen, die seit 2014 die Front gegen die von Moskau gelenkten und ausgerüsteten Separatistenrepubliken Donezk und Luhansk halten.
Den westlichen Einschätzungen nach könnte ein russischer Angriff von Norden aus Richtung Charkiw und Isjum erfolgen. Satellitenbilder zeigten vor Isjum einen kilometerlangen Konvoi mit Fahrzeugen zur Unterstützung von Infanterie, Kampfhubschrauber und Kommandostellen, sagte ein Pentagon-Vertreter. Ein zweiter Zangenangriff wird von Süden erwartet. Der ukrainische Aussenminister Dmytro Kuleba fühlte sich bei der kommenden Schlacht bereits an die Panzerschlachten in Südrussland im Zweiten Weltkrieg erinnert.
Dauerregen könnte Grossangriff im Osten verzögern
Die britischen Geheimdienste erwarten in den kommenden zwei bis drei Wochen verstärkte Gefechte im Osten der Ukraine. Serhij Hajdaj, Leiter der regionalen Militärverwaltung in Luhansk, sagte, Dauerregen könnte den russischen Vormarsch verzögern. «In den letzten zwei Tagen haben Hunderte Einheiten mit schwerem Gerät in der Nähe der Fronlinie zusammengezogen. Das könnte nahelegen, dass die Offensive heute oder morgen beginnen sollte, aber heute regnet es.» Es werde laut Wettervorhersage mehrere Tage regnen und dann müsste die russische Armee die Strassen nutzen und sei somit ein leichteres Ziel für die Ukrainer. «Ich hoffe, der Regen verlangsamt die Offensive.»
Bei dem Vormarsch im waldigen Norden der Ukraine nach dem 24. Februar waren die russischen Truppen schnell steckengeblieben, die Ukrainer konnten aus dem Hinterhalt viele Konvois bewegungsunfähig schiessen. Im Osten der Ukraine könnten die russischen Truppen kompakter stehen, ihre Nachschublinien seien kürzer, sagten US-Militärexperten. In der offenen Steppenlandschaft ohne Deckung seien die gepanzerten russischen Verbände im Vorteil. Andere Experten sagten voraus, der Nachschub bleibe auch im Osten ein Problem für die russische Armee.
Der deutsche Militärexperte Carlo Masala erwartet nach Ostern einen russischen Grossangriff im Osten der Ukraine. Die Verstärkung und Umgruppierung der russischen Truppen werde bald abgeschlossen sein, sagte der Politikprofessor der Bundeswehruniversität München im «stern»-Podcast «Ukraine – die Lage» (Dienstag). Der Beginn des Angriffs hänge von vielen Faktoren ab, bis hin zum Wetter.
Einsatz von Giftgas in Mariupol?
Prorussische Separatisten wiesen den Vorwurf ukrainischer Kämpfer zurück, sie hätten in Mariupol Giftgas eingesetzt. Eduard Bassurin, ein Sprecher der Donezker Separatisten, sagte der russischen Agentur Interfax: «Die Streitkräfte der Donezker Volksrepublik haben in Mariupol keine chemischen Waffen eingesetzt.» In der Nacht hatte das ukrainische Asow-Regiment von einem solchen Angriff berichtet. Eine offizielle Bestätigung gab es auch von ukrainischer Seite nicht.
«Nach vorläufigen Angaben gibt es die Annahme, dass es wohl Phosphorkampfmittel waren», sagte Vize-Verteidigungsministerin Hanna Maljar im ukrainischen Fernsehen. Endgültige Schlussfolgerungen könne es erst später geben. Das Risiko eines russischen Chemiewaffeneinsatzes sei jedoch gross, betonte sie. Bassurin hatte nämlich zuvor einen möglicherweise bevorstehenden Angriff mit Chemiewaffen angedeutet.
Die westlichen Staaten haben Moskau vor ernsthaften Konsequenzen gewarnt, falls es in dem Krieg Chemiewaffen oder andere Massenvernichtungswaffen einsetzen sollte. Nach den Berichten aus Mariupol schrieb die britische Aussenministerin Liz Truss auf Twitter, jeder Einsatz solcher Waffen wäre eine Eskalation, für die man den russischen Präsidenten Putin und seine Führung zur Verantwortung ziehen werde.
Selenskyj beklagt das Fehlen schwerer Waffen
Der Ukraine fehlen nach Worten von Präsident Wolodymyr Selenskyj die schweren Waffen, um das fast verlorene Mariupol zu befreien. «Wenn wir Flugzeuge und genug schwere gepanzerte Fahrzeuge und die nötige Artillerie hätten, könnten wir es schaffen», sagte er in seiner nächtlichen Videoansprache. Er sei zwar sicher, dass die Ukraine irgendwann die Waffen bekommen werde, die sie brauche. «Aber nicht nur Zeit geht verloren, sondern auch das Leben von Ukrainern.» Auch er sprach von möglichen Chemiewaffenangriffen Russlands. Dies sollte für ausländische Staaten Anlass sein, noch härter auf die russische Aggression zu reagieren, sagte Selenskyj. (awp/mc/pg)