Kiew/Moskau – Russland steuert trotz massiver internationaler Kritik auf Scheinreferenden über einen Anschluss der besetzten ukrainischen Gebiete zu. Wichtige Kreml-Propagandisten legten nahe, dass sich am Mittwoch auch Präsident Wladimir Putin dazu äussern werde. Am Dienstagabend blieb eine von mehreren russischen Medien angekündigte Fernsehansprache Putins aus.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj reagierte demonstrativ gelassen auf die Ankündigung von Volksabstimmungen in den Gebieten Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja. Daran sei nichts Neues. «Unsere Position ändert sich nicht durch Lärm oder irgendwelche Ankündigungen», sagte er in seiner Videoansprache am Dienstag. «Wir verteidigen die Ukraine, wir befreien unser Land, und wir zeigen vor allem keinerlei Schwäche.»
Selenskyj bekommt am Mittwoch die Gelegenheit, die Position der Ukraine in der UN-Vollversammlung zu verdeutlichen. Er wird dort per Video zugeschaltet, Putin wird in New York von Aussenminister Sergej Lawrow vertreten. Die von Moskau angestrebte Eskalation im seit fast sieben Monaten dauernden Angriffskrieg überschattet die UN-Generaldebatte, bei der auch US-Präsident Joe Biden sprechen soll. Für die Ukraine ist Mittwoch der 210. Kriegstag seit Beginn der russischen Invasion vom 24. Februar.
Ukraine bekommt Solidaritätsadressen vieler westlicher Partner
Selenskyj dankte für die einhellige Verurteilung der russischen Pläne durch viele Länder und Organisationen. «Wir haben die volle Unterstützung unsere Partner», sagte er in Kiew. Unter anderem haben Biden, Bundeskanzler Olaf Scholz, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell den Moskauer Vorstoss kritisiert. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) nannte die Abstimmungen illegal und einen Verstoss gegen das Kriegsvölkerrecht.
Cassis nennt «Scheinreferenden» in Ukraine gesetzeswidrig
Bundespräsident Ignazio Cassis bezeichnete die geplanten Referenden als gesetzeswidrig. «Die Schweiz wird die Resultate solcher Referenden nicht anerkennen, weil sie die territoriale Integrität verletzen, die ein fester Bestandteil der Uno-Charta ist», sagte Cassis am Rande der Uno-Generalversammlung am Dienstag in New York vor Medienvertretern. «Wir laden Russland dazu ein, auf solche Scheinreferenden zu verzichten.»
Besetzte Gebiete bitten Putin um Hilfe
Die von Moskau gestützten Separatistengebiete Donezk und Luhansk sowie die im Krieg eroberten Regionen Donezk und Saporischschja planen vom 23. bis 27. September Volksabstimmungen. Das teilten sie am Dienstag mit. Die zeitgleichen Scheinreferenden ohne Zustimmung der Ukraine und ohne jegliche Kontrolle laufen auf einen schnellen Anschluss an Russland heraus. Sie gelten als Moskauer Reaktion auf die erfolgreiche ukrainische Gegenoffensive im Osten. 2014 hatte sich Russland die ukrainische Halbinsel Krim einverleibt und dies mit einem international nicht anerkannten Referendum zu untermauern versucht.
Wie in einem Drehbuch zu Putins Auftritt wandten sich die Verwaltungschefs von Donezk und Cherson am Dienstag direkt an den Präsidenten im Kreml. Sie baten, dass er den Beitritt zu Russland befürworten möge. «Dieses Ereignis wird die Wiederherstellung der historischen Gerechtigkeit», sagte Separatistenführer Denis Puschilin aus Donezk.
Wie viele Menschen sich in den von Moskau beherrschten Teilen der Ukraine aufhalten, lässt sich kaum sagen. Die Bevölkerung dort ist seit Februar durch Tod, Flucht oder Verschleppung nach Russland stark dezimiert worden. Moskau hält trotz der ukrainischen Gegenoffensiven Schätzungen zufolge immer noch mehr als ein Sechstel des ukrainischen Staatsgebiets inklusive der Krim besetzt.
USA wollen bei Aufklärung von Kriegsverbrechen helfen
Die USA wollen der Ukraine bei der Aufklärung russischer Kriegsverbrechen mehr Hilfe leisten. US-Justizminister Merrick Garland und der ukrainische Generalstaatsanwalt Andrij Kostin unterzeichneten am Dienstag in Washington eine entsprechende Absichtserklärung.
Die USA wollten Kiew dabei unterstützen, Menschen «zu identifizieren, festzunehmen und strafrechtlich zu verfolgen, die an Kriegsverbrechen und anderen Gräueltaten in der Ukraine beteiligt sind», sagte Garland. Es gehe darum, den Opfern ein gewisses Mass an Gerechtigkeit zu verschaffen, betonte Kostin.
Wie im Frühjahr nahe der Hauptstadt Kiew sind die ukrainischen Behörden nun auch nach der Befreiung des Gebiets Charkiw auf Massengräber gestossen. Viele der Leichen weisen nach ukrainischen Angaben Spuren eines gewaltsamen Todes auf, was den Verdacht auf russische Kriegsverbrechen nahelegt. (awp/mc/pg)