Moskau / Kiew / Washington – Gut sieben Wochen nach dem Einmarsch in die Ukraine droht das russische Militär, seine Angriffe auf die Hauptstadt Kiew wieder zu verstärken. Dies gelte für den Fall, dass ukrainische Truppen Attacken in Russland selbst durchführen, warnte der Sprecher des Verteidigungsministeriums in Moskau, Igor Konaschenkow. In der Nacht zum Freitag beschoss Russlands Armee nach seinen Angaben eine Raketenfabrik nahe Kiew und brachte zudem das Stahlwerk «Iljitsch» in der umkämpften Hafenmetropole Mariupol unter seine Kontrolle. Von ukrainischer Seite gab es keine Bestätigung, die Angaben waren zunächst auch nicht zu überprüfen.
Als symbolträchtige Schlappe des Kremls gilt der Verlust des Flaggschiffs der Schwarzmeerflotte, des Raketenkreuzers «Moskwa»: Das Kriegsschiff ist im Schwarzen Meer gesunken, wie auch Moskau nach längerem Hin und Her bestätigte. Die Ukraine reklamiert, es versenkt zu haben – was Russland bestreitet. Moskau erklärte, an Bord sei nach einem Brand zunächst Munition explodiert. Dann sei das angeschlagene und evakuierte Schiff abgeschleppt worden, jedoch während eines Sturms untergegangen.
Angesichts weiterer militärischer Rückschlage für Russland in den vergangenen Wochen warnte der US-Auslandsgeheimdienst CIA, der mögliche Einsatz taktischer Atombomben dürfe nicht auf die leichte Schulter genommen werden. CIA-Chef Bill Burns sprach von einer «möglichen Verzweiflung» des Kremlchefs Wladimir Putin. Unter taktischen Atomwaffen versteht man solche mit geringerem Wirkungskreis und weniger Sprengkraft als etwa strategische Atomwaffen, die über einen Kontinent hinaus eingesetzt werden können.
Russland hatte am 24. Februar einen Angriffskrieg gegen das Nachbarland begonnen. In den vergangenen Wochen zogen die russischen Truppen etwa aus der Region um Kiew aber wieder ab, um sich auf Angriffe in der Ostukraine zu konzentrieren. Dort wird eine Grossoffensive erwartet. US-Aussenminister Antony Blinken befürchtet, dass der Krieg noch Monate und sogar über das Jahresende hinaus dauern könnte, wie CNN unter Berufung auf zwei nicht namentlich genannte europäische Offizielle meldete.
Lettland: Russen wollen so viele Zivilisten wie möglich töten
Lettlands Staatspräsident Egils Levits prangerte nach seiner Rückkehr von einem Solidaritätsbesuch in der Ukraine das Vorgehen der russischen Truppen an. Der Anblick der von Luftangriffen und Raketen zerstörten Orte sei nur schwer zu ertragen gewesen. «Dort war zu sehen, dass russische Truppen mit besonderer Grausamkeit vorgingen, um so viele Zivilisten wie möglich zu töten», sagte Levits.
Ukraine ermahnt Deutschland
Der ukrainische Aussenminister Dmytro Kuleba forderte von Bundeskanzler Olaf Scholz eine schnelle Zusage für weitere deutsche Waffenlieferungen. Er sagte am Donnerstagabend in den ARD-«Tagesthemen», Argumente dagegen seien nicht stichhaltig.
Deutschland hat bisher – soweit es bekannt ist – vor allem Panzerfäuste, Maschinengewehre und Luftabwehrraketen sowie Stahlhelme in die Ukraine geschickt. Bei der Frage nach schweren Waffen – dazu gehören etwa Panzer – reagierte Scholz bisher ausweichend.
Weitere Waffenlieferungen hält auch Vizekanzler Robert Habeck für notwendig. «Es müssen mehr Waffen kommen», sagte der Grünen-Politiker der Funke Mediengruppe. «Wir können die Ukraine in dem Krieg nicht alleine lassen. Sie kämpft auch für uns. Die Ukraine darf nicht verlieren, Putin darf nicht gewinnen.»
Auf die Frage nach Lieferung schwerer Waffen verwies Habeck aber auch auf «eine Verantwortung dafür, nicht selbst zum Angriffsziel zu werden. Das ist der Rahmen, innerhalb dessen wir alles liefern, was möglich ist.» Dieser Rahmen «schliesst grosse Panzer oder Kampfflugzeuge bisher nicht ein», fügte Habeck hinzu.
Angesichts des Ukraine-Kriegs fordert die Wehrbeauftragte des Bundestags, Eva Högl (SPD), dass sämtliche Auslandseinsätze der Bundeswehr zügig überprüft werden, wie sie der Funke-Mediengruppe sagte. Laut Bundeswehr sind aktuell knapp 3300 Soldatinnen und Soldaten in zwölf Einsätzen auf drei Kontinenten unterwegs, ein gutes Drittel von ihnen in Mali.
Selenskyj: Niemand war überzeugt, dass wir bestehen würden
Präsident Wolodymyr Selenskyj dankte den Bürgern seines Landes anlässlich des 50. Tags des russischen Angriffskrieges, dass sie das Land verteidigten. In einer Videobotschaft sagte er: «Um es milde auszudrücken: Niemand war überzeugt, dass wir bestehen würden.» Viele hätten ihm geraten, das Land zu verlassen. «Sie haben dazu geraten, dass wir uns de facto der Tyrannei ergeben.» Sie hätten aber die Ukrainer nicht gekannt und nicht gewusst, wie mutig diese seien und wie sehr sie Freiheit schätzten, «so zu leben, wie wir wollen».
Bald fünf Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine erwartet
Seit Beginn des Krieges am 24. Februar haben nach UN-Angaben rund 4,8 der ehemals 44 Millionen Einwohner die Ukraine verlassen. Mit 2,76 Millionen hat Polen die meisten Geflüchteten aufgenommen. Aus Polen sind während dieser Zeit 652’000 Menschen in die Ukraine eingereist. Die meisten waren nach Angaben des Grenzschutzes ukrainische Staatsbürger. Sie reisten meist in die Gebiete, die die ukrainische Armee zurückerobert hat.
Nach Angaben des Innenministeriums in Berlin hat die Bundespolizei mehr als 346’000 Geflüchtete aus der Ukraine festgestellt. Überwiegend seien es Frauen, Kinder und ältere Menschen, hiess es am Freitag. Es ist davon auszugehen, dass die tatsächliche Zahl der Flüchtlinge höher liegt, da es an den Grenzen keine festen Kontrollen gibt und sich Menschen mit ukrainischem Pass 90 Tage lang ohne Visum in der EU aufhalten dürfen. (awp/mc/ps)