Russlands mobilisiert Soldaten an der Front – Belarus ruft «Antiterror-Einsatz» aus
Kiew – Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sieht seine Streitkräfte unter Druck durch den Zustrom von frisch mobilisierten Soldaten auf der russischen Seite. Zwar verheize Russland diese Männer nur als Kanonenfutter, trotzdem machten sie die Aufgabe für die ukrainischen Verteidiger schwieriger, sagte Selenskyj in seiner Videoansprache am Donnerstag. Die zweitgrösste Stadt der Ukraine, Charkiw, wurde abends erneut mit russischen Raketen beschossen. Russische Marschflugkörper schlugen auch im Westen des Landes in einem Militärobjekt bei der Stadt Solotschiw ein. Am Freitag ist für die Ukraine der 233. Tag des Abwehrkampfes gegen die russische Invasion.
In der europäischen Energiekrise, verursacht durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, erreichte Deutschland den vorgesehenen Speicherstand von 95 Prozent Erdgas vor Winterbeginn. Der russische Ölkonzern Rosneft klagte in Deutschland gegen die vom Bund verfügte Zwangsverwaltung seiner Raffinerie-Tochterfirmen.
Selenskyj: Russland wirft Tausende Mobilisierte an die Front
Der russische Präsident Wladimir Putin hatte im September eine Teilmobilisierung von 300’000 Soldaten angekündigt, um Verluste im Ukraine-Krieg auszugleichen. Tatsächlich trifft die Mobilisierung aber alle Teile der russischen Gesellschaft. Hunderttausende Männer sind vor der Einberufung ins Ausland geflohen.
Die eingezogenen Soldaten werden nach Berichten oft ohne Ausbildung und schlecht bewaffnet an die Front geschickt. Am Donnerstag wurde der Tod von fünf solcher Männer aus dem sibirischen Gebiet Tscheljabinsk offiziell bestätigt. Andere Soldaten geraten schnell in ukrainische Gefangenschaft.
«Jetzt wirft Russland Tausende seiner mobilisierten Männer an die Front», sagte Selenskyj. Dabei brauchten die russischen Kommandeure diese Soldaten gar nicht: «Sie erwarten, dass die mobilisierten Russen im Krieg zumindest ein paar Wochen überleben und dann sterben.» Dann würden neue Soldaten geschickt. «Aber diese Zeit ermöglicht es den russischen Generälen, ihre Leute als Kanonenfutter zu benutzen, um zusätzlichen Druck auf unsere Verteidiger auszuüben.»
Der Druck sei spürbar. «Ich bin all unseren Soldaten dankbar, die das ertragen», sagte der ukrainische Staatschef. Er danke auch den internationalen Partnern, die verstehen, dass die Ukraine unter diesen Bedingungen noch mehr Militärhilfe brauche.
Belarus ruft ‹Antiterror-Einsatz› aus
Angesichts des Ukraine-Kriegs hat die mit Russland verbündete Ex-Sowjetrepublik Belarus offiziellen Angaben nach ihre Streitkräfte im Rahmen eines «Antiterror-Einsatzes» in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. «Wegen der Zuspitzung wurde das Regime erhöhter Terrorgefahr ausgerufen und darum haben wir Prozeduren eingeleitet, die mit der Aufstellung einer gemeinsamen Militäreinheit (mit Russland) zusammenhängen», sagte der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko am Freitag im russischen Staatsfernsehen am Rande des Gipfels von Astana. Zuvor hatte Lukaschenkos Innenminister Wladimir Makej die Verhängung des Antiterror-Einsatzes bestätigt.
Seit Wochen gibt es Spekulationen um einen möglichen Kriegseintritt von Minsk an der Seite Moskaus. Lukaschenko hat derartige Absichten stets dementiert, zugleich aber die militärische Zusammenarbeit mit Russland verstärkt. Unter anderem kündigte er Anfang der Woche den Aufbau einer gemeinsamen Militäreinheit an. Zu Kriegsbeginn hatten russische Einheiten auch von belarussischem Gebiet aus die Ukraine überfallen.
Laut Makej dient die Ausrufung des sogenannten Antiterror-Einsatzes nicht Angriffsvorbereitungen auf die Ukraine. «Führt das zu Spannungen zwischen Belarus und seinen Nachbarn? Schauen wir einmal, was an unseren westlichen und südlichen Grenzen passiert. Wenn Politiker sich so verantwortungslos verhalten, kann man leicht in den Dritten Weltkrieg schlittern», drohte er zugleich im Interview mit der kremlnahen Tageszeitung «Iswestija».
Ukraine setzt dem Roten Kreuz eine Frist
Die Ukraine macht Druck auf das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), sich stärker um ukrainische Soldaten in russischer Gefangenschaft zu kümmern. Bei einer Videoschalte gab der Chef des Kiewer Präsidialamtes, Andrij Jermak, dem IKRK eine Frist von drei Tagen, das russische Gefangenenlager Oleniwka bei Donezk zu besuchen. «Wir können nicht noch mehr Zeit vergeuden. Menschenleben stehen auf dem Spiel», sagte er.
In Oleniwka waren im Juli mehr als 50 ukrainische Gefangene bei einer Explosion getötet worden. Die Ukraine geht davon aus, dass in dem Gebäude absichtlich eine Bombe gezündet wurde. Das IKRK hat es bislang nicht geschafft, Zutritt zu dem Lager zu bekommen. Selenskyj sagte, das IKRK habe das Recht auf Zugang und müsse ihn nutzen.
Grossis Pendeldiplomatie zum AKW Saporischschja
Der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), Rafael Grossi, äusserte sich positiv nach Gesprächen mit den Präsidenten Russlands und der Ukraine zum Kernkraftwerk Saporischschja. «Die Arbeit geht weiter, und ich denke, dass wir gute Fortschritte machen», sagte Grossi am Donnerstagabend in Kiew zu Plänen für eine Sicherheitszone um das umkämpfte ukrainische Atomkraftwerk. Konkrete Signale der Zustimmung von Moskau und Kiew gab es aber nicht.
Grossi hatte vorige Woche in Kiew Selenskyj getroffen. Dann reiste er diese Woche zu Putin nach St. Petersburg, der Gesprächsbereitschaft signalisierte. Am Donnerstag war der IAEA-Generaldirektor erneut in Kiew und sprach mit Aussenminister Dmytro Kuleba.
Deutsche Gasspeicher knacken Marke von 95 Prozent
Mit einem Füllstand von 95,14 Prozent haben die Gasspeicher in Deutschland am Donnerstagabend die zum 1. November vorgegebene Marke frühzeitig erreicht. Mengenmässig reiche das Gas für ungefähr zwei kalte Wintermonate, sagte der Präsident der Bundesnetzagentur, Klaus Müller. «Die gut gefüllten Speicher werden uns im Winter helfen.»
Zugleich betonte der Behördenchef, dass die Speicher nicht für die ganze Heizperiode ausreichten und zusätzliche Anstrengungen nötig seien. Dazu zählte er neue Flüssiggas-Terminals an Deutschlands Küste. Ausserdem müsse die Gasversorgung auch in den Nachbarstaaten stabil bleiben, und der inländische Gasverbrauch müsse um mindestens 20 Prozent sinken, sagte Müller.
Rosneft klagt gegen Treuhandverwaltung seiner Raffinerie
Im Streit über die Treuhandverwaltung der deutschen Rosneft-Töchter hat der russische Ölkonzern das Bundeswirtschaftsministerium verklagt. Das teilte die Berliner Kanzlei Malmendier mit. Die Voraussetzungen für eine Zwangsverwaltung lägen nicht vor. Der Fall unterscheide sich grundlegend von dem der Deutschlandtochter des Gaskonzerns Gazprom.
Rosneft komme seine Rohöllieferverpflichtungen in vollem Umfang nach. «Es gibt keine Lieferunterbrechungen und keine Leistungsstörungen», argumentierten die Juristen. Die Bundesregierung hatte im September angekündigt, die Mehrheitseigner der brandenburgischen Raffinerie PCK in Schwedt in Brandenburg – zwei Rosneft-Töchter – unter staatliche Kontrolle zu bringen. Hintergrund ist ein geplantes Ölembargo gegen Russland, das ab 1. Januar greifen soll.
Ukrainischer Botschafter Melnyk verabschiedet sich von Deutschland
Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk verabschiedete sich via Twitter von Deutschland. «Ich kehre nach Hause zurück erhobenen Hauptes mit reinem Gewissen und dem Gefühl, meine Pflicht gegenüber der Ukraine erfüllt zu haben», schrieb er am frühen Freitagmorgen. «Danke, liebe deutsche Freunde, für Ihre Geduld.» Melnyk will Deutschland am Samstag verlassen. Er soll in Kiew einen neuen Posten im Aussenministerium übernehmen. Sein Nachfolger Olexij Makejew wird bereits Anfang kommender Woche in Berlin erwartet. Selenskyj hatte Melnyk Mitte Juli von seinem Posten abberufen. Melnyk hatte sich nicht erst seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine mit oft harter Kritik an der Bundesregierung einen Namen gemacht.
Das wird am Freitag wichtig
In Luxemburg treffen sich die Innenminister der Europäischen Union, auch Bundesinnenministerin Nancy Faser (SPD) wird erwartet. Ein Thema wird die Lage von Flüchtlingen aus der Ukraine in der EU sein.
In Kopenhagen äussert sich die Weltgesundheitsorganisation WHO in Europa zu den gesundheitlichen Folgen des Krieges in der Ukraine. Es geht darum, wie das ukrainische Gesundheitssystem besser unterstützt werden kann. (awp/mc/ps)