Bern – Die Schweizer Presse hat für CDU-Chef Friedrich Merz nach der gewonnenen Bundestagswahl keine einfache Ausgangslage beschrieben: Die AfD erstarkt, der aussenpolitische Druck wächst. Merz ist auf die Kompromissbereitschaft der anderen Parteien angewiesen während die Zeit drängt, wie aus den Kommentarspalten vom Montag hervorging.
«Merz› CDU/CSU ist zum Erfolg verdammt», lautete der Titel des Kommentars von Tamedia zur deutschen Bundestagswahl. Da Merz nicht mit der AfD koalieren wolle, müsse er sehen, zu welchen Kompromissen Sozialdemokraten oder Grüne bereit seien. «Scheitert Merz an der Aufgabe, eine Koalition zu bilden, dürfte sein Traum von der Kanzlerschaft kurz vor dem Ziel doch noch platzen», schrieb Tamedia.
Schliesse die Union «zu viele faule Kompromisse, wird ihr vom ersten Tag an die AfD im Nacken sitzen, um ihr Verrat an den eigenen Versprechen vorzuwerfen», kommentierte Tamedia. Zudem dränge die Zeit «wie selten: Die absehbare Zolllawine aus den USA und die Friedenspläne für die Ukraine erfordern, dass Deutschland möglichst schnell eine handlungsfähige Regierung erhält. Merz steht vor einer herkulischen Aufgabe.»
«Europa braucht ein starkes Deutschland»
Die Parteien dürfen sich gemäss dem Kommentar der Plattform Watson nicht «unendlich viel Zeit für die Bildung einer Koalition nehmen». «Denn Europa braucht ein starkes Deutschland», schrieb Watson. Die grösste Chance für Friedrich Merz und seine Regierung sei, dass die Erwartungen tief seien. «Die grösste Wahlbeteiligung seit der Wiedervereinigung 1990 ist ein weiterer Lichtblick. Die Deutschen mögen unzufrieden sein, aber sie sind nicht politikverdrossen», schrieb Watson.
«Zum ersten Mal seit fast achtzig Jahren merken die Deutschen, dass sie sich nicht mehr darauf verlassen können, dass ihr grosser amerikanischer Freund sie beschützt», schrieben die Westschweizer Tamedia-Zeitungen «Tribune de Genève» und «24 Heures». Deutschland könne es sich nicht leisten, der «kranke Mann» Europas zu sein, schrieb «Le Temps». «Im Windschatten anderer europäischer Länder sieht sich Deutschland heute mit einer extremen Rechten konfrontiert, die seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr so stark war», kommentierte «Le Temps». Ihr Durchbruch auf nationaler Ebene spiegele eine Unsicherheit wider, die im nördlichen Nachbarland selten zu beobachten sei.
Wichtiger noch als die innenpolitische Debatte werde das Verhalten Deutschlands auf der europäischen Bühne sein, schrieb auch «Blick». Merz lasse sich nicht blenden, «weder von den propagandistischen Floskeln aus dem Kreml, noch vom grellen Scheinwerferlicht im Konrad-Adenauer-Haus.» Allerdings stehe Merz «ein schwieriger Tanz bevor», kommentierte «Blick».
«Erst einmal banges Warten»
Ihm bleibe nur noch die Grosse Koalition, kurz Groko, schrieb «Blick». Die Zeitung bezeichnete die Koalition mit der SPD als «politische Zwangsehe». «Was aber heisst das für Deutschland?», fragte «Blick» in der Kommentarspalte und antwortete: «Erst einmal banges Warten. Die Verhandlungen über das ‹Wie genau?› und ‹Wer genau?› wird eine ganze Weile dauern.»
«In welchem Umfang die Reformen in der Wirtschafts- und in der Migrationspolitik, die das Land so dringend bräuchte, in den kommenden Jahren kommen werden, ist ungewiss», schrieb CH Media. Etwas spreche dafür, dass sich die Parteien «zu schmerzhaften Kompromissen durchdringen könnten: der Aufstieg der AfD.»
Die AfD sei der heimliche Gewinner dieser Wahl – und der Union «dicht auf den Fersen», kommentierte die «Neue Zürcher Zeitung» (NZZ). «Merz bleibt jetzt nur noch die Hoffnung darauf, dass ein einzelner Koalitionspartner genügt», schrieb die NZZ. Sollten für eine stabile Mehrheit auch die Grünen mit ins Boot geholt werden müssen, könnte die Union bei der nächsten Bundestagswahl vor ganz anderen Problemen stehen. «Im schlimmsten Fall ist die AfD ihr dann nicht mehr nur auf den Fersen. Sondern einige Schritte voraus», schrieb die NZZ. (awp/mc/ps)