Sechs Monate nach Kriegsbeginn: Neue Militärhilfe im Milliardenwert für die Ukraine
Kiew / Moskau – Sechs Monate nach dem russischen Angriff auf die Ukraine geben sich beide Seiten siegesgewiss – trotz Tausender Toter, trotz der Verwüstungen und eines weitgehenden militärischen Patts an der Front. Zum Unabhängigkeitstag der Ukraine bekräftigte Präsident Wolodymyr Selenskyj am Mittwoch, alle von Russland besetzten Gebiete würden zurückgeholt. Die USA kündigten weitere Waffenhilfe für Kiew im Wert von drei Milliarden Euro an. Der deutsche Kanzler Olaf Scholz betonte in einer Videobotschaft erneut die Unterstützung für die Ukraine. Zugleich ächzt die Welt unter den Folgen des Kriegs.
Russland hatte die Ukraine am 24. Februar angegriffen und hält inzwischen rund ein Fünftel des Landes besetzt. Mehr als 80 000 russische Soldaten sollen getötet oder verwundet worden oder desertiert sein – die Zahl nannte der britische Verteidigungsminister Ben Wallace in der BBC. Die Ukraine sprach zuletzt von 9000 getöteten Soldaten in den eigenen Reihen, doch Beobachter gehen auch hier von höheren Zahlen aus. Generell sind viele Aussagen der Kriegsparteien kaum unabhängig zu überprüfen.
Russland verteidigt Angriff auf die Ukraine
Moskaus Verteidigungsminister Sergej Schoigu bekräftigte am Mittwoch die Rechtfertigungen des russischen Angriffs. Die Ukraine habe den Minsker Friedensplan für die Gebiete im Donbass abgelehnt, sagte Schoigu laut Agentur Interfax in der usbekischen Hauptstadt Taschkent. Deshalb «ging reale Gefahr für die Menschen im Donbass aus, und in der Perspektive für die Russische Föderation», sagte er.
Die sogenannte Militäroperation läuft laut Moskau nach Plan. «Alle Ziele werden erreicht», sagte Schoigu. Internationale Beobachter vermerken, dass die russischen Truppen nur schleppend vorankommen. Schoigu erklärte indes, das Tempo der Angriffe sei bewusst verlangsamt worden, um Opfer unter Zivilisten zu vermeiden. Er reagierte damit auf den Vorwurf, Kriegsverbrechen zu begehen. Zudem geisselte Schoigu erneut die Militärhilfe des Westens für Kiew. Dies erhöht aus seiner Sicht die Opferzahl und verlängert den Konflikt.
«Wir werden kämpfen bis zum Schluss»
Der ukrainische Präsident Selenskyj hielt in einem emotionalen Videoclip dagegen – zum 31. Jahrestag der Unabhängigkeit seines Landes inszeniert mit Kriegstrophäen im Kiewer Zentrum. «Wir werden kämpfen bis zum Schluss», sagte der 44-Jährige. Er schloss Zugeständnisse und Kompromisse gegenüber den russischen Angreifern aus. Russische Soldaten bezeichnete er als «Mörder, Vergewaltiger und Plünderer». Der Krieg habe die Ukraine geeint. Er würdigte alle, die für die Unabhängigkeit der Ukraine kämpften. Auch Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko sagte in einer Videobotschaft: «Wir werden alles überstehen, egal, wie schwer es ist. Wir werden siegen!»
Den Unabhängigkeitstag begingen Selenskyj und seine Frau Olena unter anderem mit einem «Gebet für die Ukraine» mit Vertretern aller Glaubensrichtungen in Kiew. Am 24. August 1991 hatte die Ukraine ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion erklärt.
Waffen aus Deutschland und den USA
Bundeskanzler Scholz hatte erst am Dienstag ein weiteres Rüstungspaket im Umfang von 500 Millionen Euro angekündigt, darunter drei weitere Flugabwehrsysteme des Typs Iris-T, ein Dutzend Bergepanzer und 20 auf Pick-ups montierte Raketenwerfer erhalten. Der ukrainische Verteidigungsminister Olexij Resnikow verlangte in der ARD erneut mehr und rief Deutschland auf, die Lieferung von Leopard-Panzern aus anderen Ländern zu genehmigen. Nötig sei «mehr als nur Freundschaft und Lippenbekenntnisse». Eine diplomatische Lösung schliesst Resnikow zurzeit aus: «Das Ziel von Verhandlungen ist ein Traum unserer Partner. Im Moment ist das kein Traum der Ukraine.»
Die US-Regierung legte ihrerseits weitere Militärhilfen für drei Milliarden Dollar nach. «Damit kann die Ukraine Luftabwehrsysteme, Artilleriesysteme und Munition, unbemannte Luftabwehrsysteme und Radare erwerben, um sich langfristig verteidigen zu können», erklärte Präsident Joe Biden. Die USA seien entschlossen, das ukrainische Volk im Kampf um die Verteidigung seiner Souveränität zu unterstützen. Die USA haben insgesamt schon gewaltige Summen für die Ukraine locker gemacht. Im Mai hatte der US-Kongress fast 40 Milliarden Dollar gebilligt, etwa die Hälfte für Verteidigung.
USA werden Veränderungen der ukrainischen Grenzen nicht akzeptieren
Auch vor dem UN-Sicherheitsrat unterstrichen die USA ihre Unterstützung für den Abwehrkampf der Ukraine gegen Aggressor Russland. «Um es klar zu sagen: Die internationale Gemeinschaft wird Russlands Versuch, die Grenzen der Ukraine gewaltsam zu verändern, niemals anerkennen», sagte die amerikanische UN-Botschafterin Linda Thomas-Greenfield. Die vergangenen sechs Monate hätten schreckliche Gräueltaten, darunter Vergewaltigung, Mord und Folter durch russische Streitkräfte in Städten wie Butscha oder Irpin gebracht, so Thomas-Greenfield weiter. Die Hinweise dafür, dass russische Streitkräfte Hunderttausende Ukrainer, unter ihnen auch Kinder, festgenommen, verhört und gewaltsam deportiert haben, häuften sich weiter. «Ihre Gründe sind klar: Sie wollen die Ukraine zerstören – ihre Kultur, ihre Menschen, ihre Existenz.»
Papst fordert Ende des Kriegs
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg drängte die Unterstützer der Ukraine zu mehr Militärhilfe. «Die Nato-Alliierten sollten dringend mehr tun, so dass die Ukraine als souveräne unabhängige Nation überleben kann», sagte Stoltenberg der «Welt». In seiner Grussbotschaft zum Unabhängigkeitstag der Ukraine sagte Stoltenberg: «Die Ukraine muss sich durchsetzen, und die Ukraine wird sich durchsetzen.» Die Nato werde so lange Unterstützung leisten, wie es nötig sei.
In seiner Videobotschaft sagte Kanzler Scholz: «Liebe Ukrainerinnen und Ukrainer, ihr Land wird den Schatten des Kriegs vertreiben, weil es stark ist und mutig und weil es Freunde hat in Europa und überall auf der Welt. Wir sind stolz uns zu diesen Freunden zählen zu dürfen, heute und in unserer gemeinsamen europäischen Zukunft.»
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen versprach der Ukraine Hilfe beim Wiederaufbau. Europa stehe heute und langfristig an der Seite der Ukraine. Auch Grossbritannien sagte dem angegriffenen Land weitere Unterstützung zu.
Papst Franziskus forderte ein Ende des Kriegs. «Ich hoffe, dass konkrete Schritte unternommen werden, um dem Krieg ein Ende zu setzen und das Risiko einer nuklearen Katastrophe in Saporischschja abzuwehren», sagte das Oberhaupt der katholischen Kirche. Gemeint ist das von Russen besetzte Atomkraftwerk Saporischschja. Dort wird gekämpft. Die Vereinten Nationen versuchen, eine Inspektion durchzusetzen – bisher aber vergeblich.
Die Sorgen vor den Folgen des Ukraine-Krieges treiben viele Länder in Europa um. So sprach der französische Präsident Emmanuel Macron mit Blick auf den Klimawandel und den Ukraine-Krieg vom «Ende des Überflusses, der Sorglosigkeit und der Gewissheiten». Die spanische Regierung warnte die Bürger vor einem «sehr harten Winter». (awp/mc/pg)