Kiew / Poltawa – In der Ukraine herrscht Trauer nach der verheerenden Raketenattacke auf die Grossstadt Poltawa – eine der folgenreichsten seit Beginn des russischen Angriffskriegs vor zweieinhalb Jahren. Die Opferzahl stieg nach Angaben von Präsident Wolodymyr Selenskyj bis in die Abendstunden auf 51 Tote und 271 Verletzte. Unter den Trümmern seien noch weitere Menschen, die Rettungskräfte arbeiteten unter Hochdruck. Zerstört wurde insbesondere ein Gebäude des Militärinstituts für Telekommunikation und Informatisierung in Poltawa – viele der Opfer sollen Soldaten sein.
Bei der Attacke auf die 280 Kilometer östlich von Kiew gelegene Stadt nutzte das russische Militär mutmasslich Iskander-Raketen. Auch wenn dieser Angriff besonders verheerende Folgen hatte: Der Beschuss von Städten und zivilen Objekten ist für die Menschen in der Ukraine bitterer Alltag – so wurde in der Nacht die Universität in der nordöstlichen Gebietshauptstadt Sumy durch einen weiteren Luftangriff zerstört.
Angesichts der Tragödie in Poltawa wiederholte Selenskyj seine Forderung an den Westen, schnellstmöglich die Erlaubnis zum Einsatz weitreichender Waffen gegen militärische Ziele auf russischem Gebiet zu geben. «Die russischen Schläge werden unmöglich, wenn es uns möglich wird, die Abschussrampen der Okkupanten dort zu vernichten, wo sie sind, und die russischen Militärflugplätze und die Logistik dazu», sagte Selenskyj in seiner täglichen Videoansprache.
Der ukrainische Staatschef dankte dem Nachbarland Rumänien für dessen Ankündigung, eine Batterie des Flugabwehrsystems Patriot zu liefern. Er habe auch mit Kanadas Premierminister Justin Trudeau telefoniert und mit ihm über die Notwendigkeit weiterer Flugabwehrsysteme und weitreichender Waffen geredet, sagte Selenskyj.
Regierungsumbildung in Kiew
Zudem kündigte Selenskyj den Umbau der Regierung an, um die aussen- und innenpolitischen Herausforderungen des bevorstehenden Herbstes zu meistern. Als eins der grössten Probleme gilt die Energieversorgung der Bevölkerung in der kalten Jahreszeit – durch die ständigen russischen Angriffe sind das Strom- und das Wärmenetz des Landes stark beschädigt. Schon jetzt müssen die Ukrainer mit häufigen Stromabschaltungen leben.
Mehrere Minister haben bereits ihren Rücktritt eingereicht. Medienberichten zufolge droht auch Aussenminister Dmytro Kuleba die Entlassung. Regierungschef Denys Schmyhal soll demnach aber im Amt bleiben.
Bei den zunächst bekanntgewordenen drei Rücktritten handelt es sich um die Demission des für die Rüstungsindustrie zuständigen Ministers sowie die Ressortchefs für Justiz und Umwelt. Auch der für Privatisierungen zuständige Chef des Fonds für Staatseigentum möchte aus dem Amt scheiden. Später wurden auch die Rücktrittsgesuche der Vizeregierungschefinnen Olha Stefanischyna und Iryna Wereschtschuk bekannt. Wereschtschuk ist für Flüchtlingsfragen, Stefanischyna für die europäische Integration der Ukraine verantwortlich. Sie soll dem Vernehmen nach aber einen anderen Posten in der Regierung bekommen.
Lage an der Front bleibt schwierig
Derweil stehen die ukrainischen Streitkräfte an der Front weiter unter Druck. Laut dem abendlichen Lagebericht des ukrainischen Generalstabs gab es erneut fast 200 Gefechte. Das Hauptziel der russischen Angriffsbemühungen bleibt dabei die Kleinstadt Pokrowsk im Gebiet Donezk, von wo allein rund 60 Zusammenstösse gemeldet werden. In dem Raum haben die russischen Truppen aufgrund personeller und materieller Überlegenheit und der Lufthoheit in den vergangenen Wochen stetig Geländegewinne erzielt.
Ukraine wirft Russland Erschiessung Kriegsgefangener vor
Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft beschuldigt russische Soldaten, weitere Kriegsgefangene getötet zu haben. Es seien Ermittlungen wegen der Erschiessung dreier Ukrainer im Raum Torezk im ostukrainischen Gebiet Donezk aufgenommen worden, teilte die Behörde auf ihrem Telegram-Kanal mit. Den vorliegenden Informationen nach seien die Ukrainer mit erhobenen Händen aus einem Bunker gekommen. «Die Besatzer haben sie mit dem Gesicht nach unten auf die Erde gelegt und ihnen unmittelbar danach in den Rücken geschossen», schrieb die Behörde unter Berufung auf im Internet kursierende Videos. (AWP/mc/pg)