Selenskyj erwartet Verhandlungen zu EU-Beitritt
Kiew – Nach dem Besuch von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Kiew rechnet die ukrainische Staatsführung nach eigenen Angaben noch in diesem Jahr mit dem Beginn von EU-Beitrittsverhandlungen. «Heute habe ich positive Signale von der Präsidentin der EU-Kommission gehört hinsichtlich unseres Fortschritts für einen Start der Verhandlungen», sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj in seiner am Samstag verbreiteten abendlichen Videobotschaft. Von der Leyen hatte der Ukraine, die sich seit mehr als 20 Monaten gegen den russischen Angriffskrieg verteidigt, zuvor Erfolge bei ihren Reformbemühungen bescheinigt.
Über den Beginn der Beitrittsverhandlungen sollen die Staats- und Regierungschefs der EU im Dezember entscheiden. Selenskyj betonte in seiner Ansprache, dass die Ukrainer sich daran gewöhnen sollten, Teil der Europäischen Union zu werden. Die Zeit, da die ukrainische Flagge in Brüssel mit den Fahnen anderer EU-Staaten wehen werde, rücke näher. «Ich danke Präsidentin von der Leyen für ihre starke und grundsätzliche Unterstützung.»
Es gehe nicht darum, dass die EU der Ukraine etwas vorschreibe, betonte Selenskyj mit Blick etwa auf den von Brüssel immer wieder geforderten Kampf gegen Korruption. «Die Transformation unseres Landes ist etwas, das wir selbst brauchen», sagte er. Die Ukraine habe trotz des Krieges in Rekordgeschwindigkeit den EU-Kandidatenstatus erhalten und nun auch die Voraussetzungen geschaffen für den Beginn der Verhandlungen über den Beitritt.
Von der Leyen will an diesem Mittwoch den EU-Fortschrittsbericht zur Ukraine vorlegen. Das Land habe viele Etappenziele auf dem Weg zu einem Beitritt zur Europäischen Union erreicht, sagte sie. Von der Leyen nannte die Reform des Justizsystems, die Eindämmung des Einflusses der Oligarchen und die Bekämpfung der Geldwäsche. Sie war am Samstagmorgen zu ihrem sechsten Besuch in dem Land seit Beginn des russischen Angriffskriegs am 24. Februar 2022 eingetroffen.
Von der Leyen lobt Reformerfolge der Ukraine
Die Ukraine erfüllt die Voraussetzungen für EU-Beitrittsverhandlungen laut von der Leyen inzwischen fast vollständig. «Sie haben bereits deutlich über 90 Prozent des Wegs hinter sich», sagte sie in einer Rede vor der Obersten Rada, dem ukrainischen Parlament. Es seien bereits viel grössere Fortschritte gemacht worden, als von einem Land im Krieg erwartet werden könnten.
«Sie führen einen existenziellen Krieg, und gleichzeitig sind Sie dabei, Ihr Land tiefgreifend zu reformieren», sagte von der Leyen auch nach einem Treffen mit Selenskyj. Die bisher erreichten Etappenziele nötigten ihr Respekt ab. «Dies ist das Ergebnis harter Arbeit, und ich weiss, dass Sie dabei sind, die noch ausstehenden Reformen zu vollenden.»
Den Beginn der Beitrittsverhandlungen müssen die 27 EU-Staaten einstimmig beschliessen. Aus Kommissionskreisen hiess es zuletzt, dass die Ukraine sehr grosse Fortschritte gemacht habe, es aber vermutlich noch nicht möglich sein werde, alle sieben Voraussetzungen als uneingeschränkt erfüllt zu bewerten. Voraussichtlich werde den EU-Staaten deswegen empfohlen, den Beginn der Beitrittsverhandlungen zwar zu beschliessen, den ersten Verhandlungstermin aber erst nach Erfüllung aller Reformauflagen festzulegen.
Selenskyj sieht keine Pattsituation im Krieg mit Russland
Präsident Selenskyj wies indes Befürchtungen von Armeeoberbefehlshaber Walerij Saluschnyj zurück, der Krieg könnte sich im jetzigen Stadium festfahren. «Heute sind die Leute müde, alle werden müde, und es gibt verschiedene Meinungen. Das ist klar, doch gibt es keine Pattsituation», sagte Selenskyj. General Saluschnyj hatte in einem Beitrag für die britische Zeitschrift «The Economist» erklärt, dass die Ukraine in einem Stellungskrieg gefangen sei.
Wegen der russischen Luftüberlegenheit seien die Ukrainer zurückhaltender beim Einsatz ihrer Soldaten, erklärte Selenskyj. Die im kommenden Jahr erwarteten F-16-Kampfjets und eine stärkere Flugabwehr würden die Situation zu ukrainischen Gunsten ändern.
Die Ukraine wehrt sich mit massiver westlicher Hilfe gegen die russische Invasion. Die grosse Gegenoffensive zur Befreiung ihrer von Russland besetzten Gebiete ist weit hinter den selbstgesteckten Zielen zurückgeblieben. Saluschnyj räumte in seinem Artikel Fehler bei der Planung ein. Der Westen müsse mit neuen Waffenlieferungen die Ukraine befähigen, diese Situation zu ändern. Zudem mahnte er an, im Zuge einer stärkeren Mobilmachung den Kreis der wehrpflichtigen Männer auszuweiten, um mit dem zahlenmässig überlegenen russischen Gegner gleichzuziehen. (awp/mc/ps)