Ukraine zieht aus Lyssytschansk ab – Schwere Kämpfe im Osten
Kiew / Moskau – Im Osten der Ukraine sind die russischen Truppen weiter auf dem Vormarsch. Nach wochenlangem Abwehrkampf gab die ukrainische Armee am Sonntagabend bekannt, dass sie aus der Stadt Lyssytschansk im Gebiet Luhansk abzieht. Die russischen Besatzungstruppen hätten eine mehrfache Überlegenheit, erklärte der Generalstab in Kiew. Eine weitere Verteidigung hätte daher «fatale Folgen». Russland hatte zuvor gemeldet, dass es die Grossstadt eingenommen habe. Von unabhängiger Seite lassen sich die Berichte aus den Kampfgebieten kaum überprüfen.
Lyssytschansk war die letzte grössere Bastion der Ukrainer im Gebiet Luhansk. Dessen Eroberung gehört zu den von Russland benannten Kriegszielen. In der letzten Juni-Woche hatte das ukrainische Militär schon die Grossstadt Sjewjerodonezk aufgeben müssen, die von Lyssytschansk nur durch einen Fluss getrennt ist. Vor dem Krieg lebten in dem Ballungsraum etwa 380 000 Menschen.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bezeichnete die Lage um Lyssytschansk als schwierig und gefährlich. Die Kämpfe bei der Stadt dauerten an, sagte er am Sonntag. Die ukrainische Armee tue alles, was in ihrer Macht stehe. Auf die Frage, ob Russland die Region Luhansk komplett erobern könne, sagte Selenskyj: «Es gibt solche Risiken, dass das Gebiet Luhansk besetzt wird. Sie sind uns klar. Aber man muss verstehen, dass sich die Situation täglich ändern kann.»
Auch in anderen ostukrainischen Gebieten gingen die Kämpfe weiter. In der Stadt Slowjansk wurden nach Angaben des Bürgermeisters sechs Menschen getötet. Der regionale Befehlshaber des Gebiets Charkiw meldete drei Tote.
Ukraine: Russland setzte verbotene Streumunition ein
Bei Raketenangriffen auf die Stadt Slowjansk im Osten des Landes soll Russland nach ukrainischen Angaben verbotene Streumunition eingesetzt haben. Bürgermeister Wadym Ljach sprach von vielen Toten und Verletzten sowie den «schwersten Angriffen in jüngster Zeit», nannte aber keine genaue Opferzahl. Dabei seien auch zivile Bereiche getroffen worden. Als Streumunition werden Raketen und Bomben bezeichnet, die in der Luft über dem Ziel bersten und viele kleine Sprengkörper freisetzen. Ihr Einsatz ist völkerrechtlich geächtet.
Die Ukraine beschuldigte Russland auch, über der inzwischen geräumten Schlangeninsel im Schwarzen Meer Phosphorbomben abgeworfen zu haben. Solche Bomben, die schwere Verbrennungen und Vergiftungen verursachen können, sind nicht explizit verboten. Allerdings ist ihr Einsatz gegen Zivilisten und in städtischen Gebieten geächtet. Moskau äusserte sich zu diesen Vorwürfen nicht.
Explosionen in südukrainischer Stadt Melitopol
Auch in anderen Teilen der Ukraine gingen die Kämpfe am Wochenende weiter. Die von russischen Truppen besetzte Grossstadt Melitopol im Süden wurde in der Nacht zum Sonntag von Dutzenden Explosionen erschüttert. Mehr als 30 Geschosse seien auf einen der vier russischen Militärstützpunkte in der Stadt abgefeuert worden, teilte der ukrainische Bürgermeister Iwan Fjodorow mit. Der Stützpunkt sei damit ausser Gefecht gesetzt worden. Die russische Militärverwaltung bestätigte den Angriff. Mehrere Wohnhäuser seien durch den Beschuss mit Raketenwerfern beschädigt worden.
Gouverneur: Drei Tote nach Explosionen in russischer Grenzstadt
Bei Explosionen in der russischen Stadt Belgorod nahe der Grenze zur Ukraine kamen nach Angaben des Gouverneurs der Region drei Menschen ums Leben. Vier weitere Menschen seien verletzt worden, darunter ein zehnjähriges Kind. Darüber hinaus seien 50 Häuser beschädigt worden. Die Ursachen des Vorfalls würden untersucht, das Luftabwehrsystem werde voraussichtlich aktiviert.
Russland beklagt wiederholt auch Angriffe auf sein eigenes Staatsgebiet. Kiew äussert sich zu den Vorwürfen in der Regel nicht.
Scholz versichert Ukraine deutsche Unterstützung
Bundeskanzler Olaf Scholz versicherte der Ukraine in einem Online-Interview der ARD abermals deutsche Unterstützung «so lange, wie das erforderlich ist». Zugleich bekräftigte er: «Eine bedingungslose Kapitulation ist nicht akzeptabel, auch kein Diktatfrieden, wie ihn sich Putin vorstellt.» Dem US-Sender CBS sagte Scholz, dass Putin den Krieg noch sehr lange fortsetzen könne.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sprach sich dagegen aus, die Ukraine jetzt zu Verhandlungen zu drängen. «Wir müssen die Ukraine in eine Lage versetzen, in der sie etwas zu verhandeln hat, indem wir sie stark machen, bevor Verhandlungen beginnen», sagte Steinmeier im ZDF. Der Kreml sieht in solchen Äusserungen ein Bestreben des Westens, den Krieg in die Länge zu ziehen. (awp/mc/pg)