Brüssel – Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat vor dem EU-Gipfel bei einem Telefonat mit Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni noch einmal auf den Beginn von Beitrittsverhandlungen gedrängt. «Ich gehe davon aus, dass die Staats- und Regierungschefs der EU die Bemühungen der Ukraine anerkennen und diesen historischen Schritt unternehmen werden», schrieb Selenskyj am Mittwoch auf seinem Telegram-Kanal. Die Ukraine habe ihren Teil der Arbeit erledigt. Er glaube, dass die EU Einigkeit und Stärke demonstrieren werde, gab sich der ukrainische Präsident optimistisch, eine Einladung zum Beginn von Gesprächen zu erhalten.
Bei dem an diesem Donnerstag beginnenden zweitägigen EU-Gipfel sind die Beitrittsverhandlungen für die Ukraine eins der grossen Themen. Für Kiew ist angesichts der anhaltenden russischen Aggression die Perspektive eines EU-Beitritts äusserst wichtig. Allerdings gibt es innerhalb der Union noch Widerstand gegen EU-Beitrittsverhandlungen. Der ungarische Regierungschef Viktor Orban hatte in den vergangenen Wochen mehrfach deutlich gemacht, dass aus seiner Sicht derzeit keine Beschlüsse zu EU-Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine gefasst werden sollten – etwa weil das von Russland angegriffene Land noch nicht alle Reformauflagen erfüllt hat.
Selenskyj schrieb am frühen Donnerstagmorgen auf der Plattform X (ehemals Twitter), er habe auch mit dem Präsidenten des Europäischen Rats, Charles Michel, und dem neuen polnischen Regierungschef Donald Tusk telefoniert. Mit Michel habe er die «erwarteten Ergebnisse für die Ukraine» auf dem Gipfel erörtert, die die unerschütterliche Unterstützung und Einheit der EU unter Beweis stellen müssten. «Beides ist notwendig, um die Widerstandsfähigkeit der Ukraine gegen die russische Aggression und auf dem Weg zur EU-Mitgliedschaft zu stärken.» Mit Tusk habe er über die anstehenden Entscheidungen auf dem Gipfel gesprochen, die die gesamte europäische Gemeinschaft zusammenbringen würden. «Ich habe Worte aufrichtiger Unterstützung vernommen. Wir sind stärker, wenn wir zusammen sind», schrieb Selenskyj.
Russland meldet Abwehr von ukrainischen Drohnenangriffen
Russland wehrte eigenen Angaben zufolge in der Nacht zum Donnerstag erneut ukrainische Drohnenangriffe ab. Neun unbemannte Flugkörper seien über den Regionen Moskau und Kaluga abgefangen worden, teilte das russische Verteidigungsministerium laut staatlicher Nachrichtenagentur Tass mit. Unabhängig überprüfen liess sich das zunächst nicht. Immer wieder kommt es vor, dass Russland von angeblich erfolgreich abgewehrten Angriffen spricht, dann aber doch Schäden bekannt werden.
Russland führt seit mehr als 21 Monaten einen Angriffskrieg gegen das Nachbarland Ukraine. Bei ihrem Abwehrkampf gegen die russische Invasion beschiesst die Ukraine auch immer wieder russisches Staatsgebiet – sowohl in der Grenzregion als auch im Hinterland. Opferzahlen und Schäden stehen dabei allerdings in keinem Verhältnis zu den schweren Kriegsfolgen in der Ukraine.
Moskaus Militärblogger melden Einnahme von Marjinka
Das ukrainische Militär dementierte die von russischen Militärbloggern behauptete Einnahme der Stadt Marjinka im Gebiet Donezk. «Es werden weiterhin Informationen und Provokationen über die angeblich vollständige Eroberung der Stadt gestreut. Die Verteidigung geht weiter», schrieb der für diesen Frontabschnitt zuständige ukrainische Kommandeur Olexandr Tarnawskyj am Mittwoch auf seinem Telegram-Kanal. Nach seinen Angaben setzten die russischen Besatzer ihre Sturmversuche fort. Unabhängig prüfen lassen sich die Angaben nicht.
Das schwer zerstörte Marjinka ist neben Awdijiwka einer der Schwerpunkte der russischen Angriffsbemühungen im Donbassgebiet. In den beiden der Industriemetropole Donezk vorgelagerten Städten setzen sie schwere Technik und auch die Luftwaffe ein. Donezk wird schon seit 2014 von prorussischen Separatisten kontrolliert. Laut Tarnawskyj gab es innerhalb von zwei Tagen 19 Luftschläge auf Marjinka und Awdijiwka.
Über die angebliche Eroberung Marjinkas hatten bereits am Dienstag erste russische Militärblogs wie Operazija Z berichtet. Offiziell hat das russische Verteidigungsministerium die Einnahme nicht gemeldet und stattdessen von erfolgreichen russischen Angriffen auf ukrainische Positionen im Raum Marjinka gesprochen.
Teil des Telefonnetzes wieder hergestellt
Nach mehr als 30 Stunden Totalausfall brachte der grösste ukrainische Mobilfunkanbieter Kyivstar offenbar erste Abonnenten wieder ans Netz. Das betrifft vor allem die Hauptstadt Kiew und andere Grossstädte, wie ukrainische Medien am Mittwoch meldeten. In einer Mitteilung bestätigte der Konzern, dass ab 18.00 Uhr (17.00 Uhr MEZ) schrittweise das Telefonnetz wieder hergestellt werde. Kurznachrichten und mobiles Internet sollen im Laufe der nächsten 24 Stunden wieder möglich werden. Tags zuvor war nach einem beispiellosen Hackerangriff das Netz von Kyivstar komplett ausgefallen. Der Anbieter hat eigenen Angaben nach gut 24 Millionen Abonnenten. Vermutet wird ein russischer Sabotageakt.
Was am Donnerstag wichtig wird
In Brüssel beginnt ein zweitägiger Gipfel der Europäischen Union, von dem sich Kiew grünes Licht für den Start von Beitrittsverhandlungen zur EU erhofft. In Moskau wird derweil Russlands Präsident Putin bei seiner Jahrespressekonferenz und Bürgersprechstunde noch einmal seine Sicht auf den von ihm befohlenen Krieg in der Ukraine darlegen. (awp/mc/ps)