Kiew – Angesichts von Kälte und Dunkelheit in ukrainischen Städten infolge der massiven Blackouts hat Präsident Wolodymyr Selenskyj den Widerstandsgeist seines Volkes gegen die russische Invasion beschworen. «Wir haben neun Monate lang einen umfassenden Krieg überstanden, und Russland hat keinen Weg gefunden, uns zu brechen. Und es wird keinen finden», sagte Selenskyj am Donnerstag in seiner abendlichen Videoansprache. «Wir müssen so weitermachen wie jetzt gerade, in Einigkeit und gegenseitiger Hilfe.»
Die Wiederherstellung von Strom- und Wasserversorgung nach dem schweren Raketenangriff vom Mittwoch dauerte den ganzen Donnerstag und in die Nacht zum Freitag an. «Russland will nicht nur, dass die Ukrainer ohne Strom und Wärme sind», sagte Selenskyj in Kiew. «Die Terroristen wollen uns voneinander isolieren und dafür sorgen, dass wir einander nicht spüren.» Durch russischen Beschuss auf die Stadt Cherson in der Südukraine wurden 7 Menschen getötet und etwa 20 verletzt, wie die regionalen Behörden mitteilten. Am Freitag ist für die Ukraine der 275. Tag im Abwehrkampf gegen die Invasion.
Techniker reparieren rund um die Uhr zerstörte Energienetze
Auch wenn es in vielen ukrainischen Haushalten noch keinen Strom, Wasser oder Heizung gab, meldeten die Behörden Fortschritte bei der Wiederherstellung der Versorgung. Das Stromnetz erhole sich von dem Blackout am Mittwoch. Die Hälfte des Bedarfs könne wieder gedeckt werden, teilte der Netzbetreiber Ukrenerho am Donnerstagabend mit.
Die meisten Wärmekraftwerke und Wasserkraftwerke produzierten wieder Strom. Die notabgeschalteten Kernkraftwerke kehrten ans Netz zurück. Auch das russisch besetzten AKW Saporischschja wurde nach Angaben der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) wieder von aussen mit Strom versorgt und war nicht auf Dieselgeneratoren angewiesen.
Schwierige Lage in Kiew
Angespannt blieb die Lage in der Hauptstadt Kiew. Dort hatten nach Angaben des Versorgers DTEK nur 30 Prozent der Haushalte Strom. Das Licht könne vorerst nur für zwei, drei Stunden eingeschaltet werden.
«Mit Stand heute Abend gibt es in 15 Regionen immer noch Probleme mit dem Wasser», sagte Selenskyj. Die Angriffe auf zivile Ziele seien «die Rache derjenigen, die verloren haben», sagte er. «Sie wissen nicht, wie man kämpft. Das Einzige, was sie tun können, ist zu terrorisieren. Ob Energieterror, Artillerieterror oder Raketenterror – dazu ist Russland unter seiner derzeitigen Führung heruntergekommen.» Nur die Befreiung des gesamten Landes und Sicherheitsgarantien könnten die Ukrainer dauerhaft vor durch Russland schützen.
Befreite Stadt Cherson wird beschossen
Der Lagebericht des ukrainischen Generalstabs sprach am Donnerstag von andauernden schweren Kämpfen im Donbass in der Ostukraine. Die russischen Truppen versuchten weiterhin einen Durchbruch bei Bachmut und bei Awdijiwka.
Selenskyj sagte, die erst kürzlich von ukrainischen Truppen befreite Stadt Cherson werde fast stündlich beschossen. Am Donnerstag schossen russische Truppen mit Artillerie und Mehrfachraketenwerfern auf die Stadt in der Südukraine ein und töteten 7 Menschen. Etwa 20 Menschen seien verletzt worden, teilte Gebietsgouverneur Jaroslaw Januschewytsch mit. «Der heutige Tag ist eine weitere schreckliche Seite in der Geschichte unserer Heldenstadt.»
Unter dem Druck ukrainischer Angriffe hatten russische Truppen Cherson und ihren Brückenkopf auf dem nordwestlichen Ufer des Dnipro Mitte November geräumt. Die Russen halten aber Stellungen auf dem anderen Ufer des Flusses und setzen von dort ihre Artillerie ein.
Befreiung der Krim bleibt Kriegsziel
Trotz westlicher Skepsis hält Selenskyj an einer Befreiung der 2014 von Russland annektierten Halbinsel Krim als Kriegsziel fest. «Wenn uns jemand einen Weg aufzeigt, wie die Besetzung der Krim mit nicht-militärischen Mitteln beendet werden kann, dann werde ich sehr dafür sein», sagte er der britischen Zeitung «Financial Times». Wenn ein Vorschlag aber bedeute, dass die Krim besetzt und Teil Russlands bleibe, «sollte niemand darauf seine Zeit verschwenden».
Westliche Unterstützer der Ukraine gehen davon aus, dass diese irgendwann die von Russland seit dem 24. Februar besetzten Gebiete sowie den Donbass zurückerobern kann. Sie sind aber vorsichtiger bei der Krim: Die Halbinsel sei für Moskau strategisch und symbolisch so wichtig, dass eine Eskalation des Krieges zu befürchten sei.
Lukaschenko schliesst Einsatz seiner Armee gegen Ukraine aus
Der autoritäre belarussische Staatschef Alexander Lukaschenko schliesst einen direkten Einsatz seiner Armee im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine aus. «Wenn wir uns unmittelbar mit den Streitkräften, mit Soldaten in diesen Konflikt einmischen, tragen wir nichts bei, wir machen es nur noch schlimmer», sagte Lukaschenko nach einer Meldung der Agentur Belta vom Donnerstag. Belarus unterstütze Russland, seine Rolle sei aber eine andere.
Lukaschenko hat sein von Moskau abhängiges Land als Aufmarschgebiet für russische Truppen zur Verfügung gestellt. Die Ukraine betrachtet das Nachbarland deshalb als Kriegspartei und hält Truppen in Reserve für den Fall, einen direkten Angriff aus Belarus abwehren zu müssen.
Der russische Präsident Wladimir Putin sagte in Moskau, Russland brauche zur Versorgung seiner Streitkräfte in dem Konflikt keine Kriegswirtschaft. Die Rüstungsindustrie solle die Truppe schneller und mit besseren Produkten beliefern, forderte er. Dafür seien aber keine ausserordentlichen Massnahmen notwendig. «Man muss die Arbeit nur genau, qualitätvoll, gut koordiniert organisieren», wurde er von der staatlichen Agentur Tass zitiert. (awp/mc/pg)