Kiew – Ein nach Kämpfen ausgebrochenes Feuer an Europas grösstem Kernkraftwerk in der Ukraine schürt die Furcht vor einer atomaren Katastrophe infolge des russischen Angriffskriegs. Zwar versicherten beide Konfliktparteien und auch internationale Experten, bei dem bald darauf gelöschten Brand sei keine Radioaktivität ausgetreten. Doch wächst die Sorge vor einer unkontrollierbaren Eskalation im Kriegsgebiet. Die Nato erwartet eine deutliche Verschärfung der Lage.
Eine von vielen Ukrainern erhoffte Flugverbotszone schloss die Militärallianz aus, zugleich erwägt sie eine erhebliche Aufrüstung im östlichen Bündnisgebiet. Am Wochenende könnten Delegationen der Ukraine und Russlands zu einer dritten Verhandlungsrunde zusammenkommen, wie Kremlchef Wladimir Putin in einem Telefonat mit Bundeskanzler Olaf Scholz in Aussicht stellte.
Keine erhöhte Strahlung
Nach der Einnahme des AKW nahe der Grossstadt Saporischschja durch russische Truppen war in der Nacht zu Freitag auf dem Gelände ein Brand ausgebrochen, laut ukrainischem Innenministerium im Gebäude eines Trainingskomplexes. Es wurde am Morgen gelöscht. Die ukrainische Aufsichtsbehörde, das russische Verteidigungsministerium und später auch die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) versicherten, es sei keine erhöhte Strahlung gemessen worden. Ein russischer Ministeriumssprecher sagte der Agentur Interfax zufolge, das Personal arbeite normal weiter.
IAEA-Chef möchte Sicherheitsgarantien
IAEA-Chef Rafael Grossi sagte in Wien, alle Sicherheitssysteme seien unbeeinträchtigt. Allerdings seien zwei ukrainische Sicherheitsmitarbeiter verletzt worden. Derzeit sei nur einer der sechs Reaktorblöcke des mit bis zu 6000 Megawatt leistungsfähigsten Atomkraftwerks Europas in Betrieb. Grossi schlug vor, dass Russland und die Ukraine unter seiner Schirmherrschaft am Gelände des 1986 explodierten ukrainischen Kernreaktors Tschernobyl über Sicherheitsgarantien für die ukrainischen Atomanlagen verhandeln.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach von einem gezielten Beschuss der Reaktorblöcke in Saporischschja durch russische Panzer. Das Verteidigungsministerium in Moskau sprach hingegen von einer «Provokation des Kiewer Regimes in der Nuklearanlage», die Russland in die Schuhe geschoben werden solle.
Hotline zwischen Washington und Moskau
Aus Sorge vor unbeabsichtigten Vorfällen zwischen Einheiten der Nato und Russlands richtete das US-Verteidigungsministerium eine neue Hotline mit Moskau ein. Ziel sei es, Fehleinschätzungen, militärische Zwischenfälle und Eskalationen zu vermeiden. Die Nato selbst will keine Truppen in die Ukraine schicken, fürchtet aber, dass der Konflikt auf ihre Mitgliedstaaten übergreifen könnte.
Nato will mehr Abschreckung
«Die kommenden Tage werden wahrscheinlich noch schlimmer sein, mit mehr Tod, mehr Leid und mehr Zerstörung», sagte Nato-Generalsekretär Stoltenberg nach einem Treffen der Nato-Aussenminister in Brüssel. Mit Blick auf das östliche Bündnisgebiet ergänzte er: «Wir erwägen nun ernsthaft eine erhebliche Verstärkung unserer Präsenz – mit mehr Truppen, mit mehr Luftverteidigung, mehr Abschreckung.» Details dazu seien zwar erst bei einem Treffen der Verteidigungsminister am 16. März zu erwarten, die Ostflanke sei aber schon unmittelbar nach Beginn des Ukraine-Kriegs gestärkt worden.
Keine Flugverbotszone
Für die Durchsetzung einer Flugverbotszone müssten Kampfjets der Nato in den ukrainischen Luftraum fliegen und russische Flieger abschiessen, gab Stoltenberg zu bedenken. Ein solcher Schritt könne zu einem grossen Krieg in ganz Europa führen und sei daher trotz der verständlichen Verzweiflung in der Ukraine ausgeschlossen.
Kiew zunehmend eingekreist
Die russischen Truppen setzten indes nach ukrainischen Armeeangaben ihren Vormarsch auf die Hauptstadt Kiew fort. «Die Hauptanstrengungen der Besatzer konzentrieren sich auf die Einkreisung Kiews», hiess es. Die Millionenstadt löste am Freitag mehrfach Luftalarm aus. Alle Bewohner sollten sich in Luftschutzbunkern in Sicherheit bringen.
Nach den schweren Luftangriffen auf die nordukrainische Grossstadt Tschernihiw stieg derweil die Zahl der Toten nach Angaben der Gebietsverwaltung auf 47. Damit handle es sich um die meisten zivilen Todesopfer bei einer derartigen Attacke seit dem russischen Einmarsch am 24. Februar, berichtete das ukrainische Portal «strana.news». Russland bestreitet, gezielt zivile Gebäude anzugreifen. Nach UN-Angaben war bis zur Nacht auf Freitag der Tod von 331 Zivilisten dokumentiert, darunter 19 Kinder.
Menschrechtsverletzungen sollen dokumentiert werden
Der UN-Menschenrechtsrat bestellte eine Untersuchungskommission, die Menschenrechtsverletzungen Russlands in der Ukraine untersuchen und dokumentieren soll. Die Kommission soll auch Verantwortliche benennen, um sie vor Gerichten zur Rechenschaft ziehen zu können. Neben Russland stimmte einzig Eritrea gegen die Resolution.
Baerbock beklagt Angriffe gegen Zivilbevölkerung
Die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock warf Russland gezielte Angriffe gegen die ukrainische Zivilbevölkerung vor. «Man sieht deutlich, dass dieser Angriffskrieg Putins darauf abzielt, mit brutalster Härte jetzt auch gegen Zivilbevölkerung vorzugehen», sagte sie am Rande von Beratungen mit Kolleginnen und Kollegen in Brüssel. Umgekehrt wirft Russland der ukrainischen Führung seit Jahren Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Donbass vor und hat dazu eine Materialsammlung mit teils kaum überprüfbaren Informationen zusammengestellt.
Bundeskanzler Scholz rief Putin in einem einstündigen Telefonat zur sofortigen Einstellung aller Kampfhandlungen in der Ukraine auf. Ausserdem verlangte der SPD-Politiker, Zugang für humanitäre Hilfe in den umkämpften Gebieten zuzulassen, wie sein Sprecher mitteilte.
Putin: «Keine bösen Absichten»
Putin warnte die Nachbarländer vor einer Eskalation der Lage. «Ich würde ihnen raten, die Situation nicht anzuheizen, keine Beschränkungen einzuführen, wir erfüllen alle unsere Verpflichtungen und werden sie weiterhin erfüllen», sagte er Interfax zufolge in Moskau. «Wir haben keine bösen Absichten gegenüber unseren Nachbarn.»
Rund 1,25 Millionen Ukrainierinnen und Ukrainer auf der Flucht
Die Zahl der aus der Ukraine geflüchteten Menschen beläuft sich nach Angaben der UN-Organisation für Migration (IOM) inzwischen auf 1,25 Millionen. Davon seien allein etwa 672 000 nach Polen geflohen, sagte ein Sprecher. (awp/mc/pg)