Streit um ukrainisches Atomkraftwerk – Kämpfe am Dnipro
Kiew – Nach dem Beschuss von Europas grösstem Atomkraftwerk Saporischschja im von Russland besetzten Süden der Ukraine streiten Russland und der Westen um die Sicherheit des Kraftwerks. Das russische Aussenministerium warf den Vereinten Nationen am Mittwoch erneut vor, eine Inspektion des Kernkraftwerks durch Experten der Internationalen Atombehörde (IAEA) verhindert zu haben. Die Aussenminister der sieben führenden demokratischen Wirtschaftsmächte (G7) forderten Moskau auf, das Kraftwerk wieder der Kontrolle der Ukraine zu unterstellen. «Es ist Russlands fortdauernde Herrschaft über das Kernkraftwerk, die die Region gefährdet», kritisierten sie.
Das in der Stadt Enerhodar gelegene Atomkraftwerk wurde am Wochenende beschossen und teils beschädigt. Russland und die Ukraine geben sich gegenseitig die Schuld. Die kritische Infrastruktur soll aber intakt sein. Nach der Notabschaltung eines Blocks sind zwei Reaktoren weiter in Betrieb. Auf Initiative Russlands soll sich der UN-Sicherheitsrat an diesem Donnerstag mit dem Beschuss beschäftigen. IAEA-Chef Rafael Grossi soll das Gremium über den Zustand des AKW unterrichten.
Offene Fragen gab es am Mittwoch zudem um die Explosionen auf einem Luftwaffenstützpunkt auf der von Russland annektierten Halbinsel Krim. Nach ukrainischen Angaben sollen bei dem Vorfall am Dienstag mindestens zehn russische Flugzeuge zerstört worden sein. Während Experten einen möglichen ukrainischen Angriff vermuteten, machte Moskau einen Verstoss gegen die Brandschutzregeln verantwortlich.
Im Osten und Süden der Ukraine gingen die Kämpfe weiter. Für die Ukraine ist es der 168. Tag ihrer Abwehr der russischen Invasion.
AKW Saporischschja: G7, Moskau und Betreiber erheben jeweils Vorwürfe
Die G7-Aussenminister warnten, das Vorgehen Russlands an dem Kernkraftwerk Saporischschja erhöhe das Risiko eines nuklearen Zwischenfalls. «Das ukrainische Personal, das für den Betrieb des Kernkraftwerks Saporischschja verantwortlich ist, muss in der Lage sein, seinen Aufgaben ohne Drohungen oder Druck nachzukommen», teilte das Auswärtige Amt in Berlin in einer Erklärung der G7-Aussenminister mit. Es sei wichtig, Fachleute der IAEA zu entsenden, die mit dem ukrainischen Personal, das für den Betrieb der Anlagen verantwortlich sei, ungehindert in Kontakt treten könnten. Die G7 bezogen ihre Forderung auch auf sämtliche anderen kerntechnischen Anlagen innerhalb der international anerkannten Grenzen der Ukraine.
Die Sprecherin des russischen Aussenministeriums, Maria Sacharowa, warf dagegen den Vereinten Nation «verantwortungsloses Handeln» vor. Das russische Aussenministerium hatte zuvor beklagt, dass eine geplante Reise von IAEA-Vertretern zu dem Atomkraftwerk an Sicherheitsbedenken des zuständigen UN-Sekretariats gescheitert sei. «Im UN-Sekretariat, welches sich mit Problemen der Atomenergie befasst, darunter auch mit den Folgen technischer Katastrophen und der Problematik im weitesten Sinne, sollten sie begreifen, dass die Welt am Abgrund wandelt», erklärte Sacharowa.
«Das AKW Saporischschja funktioniert mit dem Risiko von Verstössen gegen die Vorgaben der Strahlungs- und der Brandsicherheit», teilte der Kraftwerksbetreiber Enerhoatom mit. Der Chef der Behörde, Petro Kotin, beschuldigte Russland am Dienstag im ukrainischen Fernsehen, mit dem gezielten Beschuss von Hochspannungsleitungen auf dem Kraftwerksgelände das AKW vom ukrainischen Netz trennen und es dann an die 150 Kilometer entfernte Halbinsel Krim anschliessen zu wollen.
Elf Tote durch russische Raketenangriffe im Süden der Ukraine
Weniger als 20 Kilometer vom Atomkraftwerk entfernt starben ukrainischen Angaben zufolge mindestens elf Menschen durch nächtlichen Raketenbeschuss. «Eine tragische Nacht…Im Kreis Nikopol hat die russische Armee 11 Menschen getötet und 13 verletzt», schrieb der Chef der Militärverwaltung des Gebiets Dnipropetrowsk, Walentyn Resnitschenko, am Mittwoch auf seinem Telegram-Kanal. Die getroffenen Ortschaften liegen dem Atomkraftwerk Saporischschja gegenüber am anderen Ufer des hier zum Stausee geformten Fluss Dnipro.
Flussabwärts am Dnipro machte das ukrainische Militär nach eigenen Angaben eine Brücke beim Staudamm von Nowa Kachowka unbrauchbar. Die Besatzungsverwaltung äusserte sich dazu zunächst night. Mit weitreichenden Raketen versucht die Ukraine systematisch, die drei einzigen Flussquerungen im von Russland eroberten Gebiet Cherson am Unterlauf des Dnipro zu zerstören.
Behörden verhängen örtlichen Notstand nach Explosionen auf der Krim
Die Behörden auf der von Russland annektierten Krim riefen am Tag nach den Explosionen den Notstand in dem betroffenen Landkreis um den Militärstützpunkt aus. Bei den Explosionen kam nach offiziellen Angaben mindestens ein Mensch ums Leben, 14 Menschen wurden verletzt. Kiew übernahm zunächst keine Verantwortung für die Explosionen. Der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak schrieb allerdings auf Twitter: «Das ist nur der Anfang.» Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj versprach seinen Landsleuten eine Heimholung der verlorenen Halbinsel.
Russische Medien: US-Schauspieler Seagal besucht Separatistengebiet
US-Schauspieler Steven Seagal besuchte russischen Medien zufolge das zerstörte Straflager Oleniwka in der Ostukraine, in dem Ende Juli rund 50 ukrainische Kriegsgefangene getötet wurden. Seagal folgte dort dabei der russischen Darstellung, dass das Lager mit US-Raketen beschossen worden sei. Die Ukraine und zahlreiche Experten sehen hingegen Russland in der Verantwortung für das Kriegsverbrechen. Der Star zahlreicher Actionfilme gilt als Freund von Kremlchef Wladimir Putin.
Kriegsprotest: Razzia bei Moskauer Journalistin Owsjannikowa
Die russischen Behörden haben bei der Journalistin Marina Owsjannikowa wegen angeblicher Diskreditierung der russischen Armee eine Hausdurchsuchung durchgeführt. Owsjannikowa, die nach ihrem berühmt gewordenen Protest im russischen Staatsfernsehen schon mehrere Geldstrafen wegen ihrer Kritik am russischen Angriffskrieg bezahlen musste, droht nun eine lange Haftstrafe. (awp/mc/pg)