London – Der frühere Finanzminister Rishi Sunak wird neuer britischer Premierminister und soll den Absturz seiner Konservativen Partei aufhalten. Der 42-Jährige konnte in der Fraktion deutlich mehr Unterstützer sammeln als seine einzige Konkurrentin Penny Mordaunt, die daraufhin am Montag ihren Rückzug bekanntgab. Am hinduistischen Feiertag Diwali kürte die Partei damit erstmals einen bekennenden Hindu zum britischen Regierungschef. «Rishi Sunak ist zum Chef der Konservativen Partei gewählt worden», bestätigte der Chef des zuständigen Fraktionskomitees, Graham Brady, in London. Seine ersten Worte als designierter Premier richtete Sunak an seine Fraktion, erst später wollte er sich an die Öffentlichkeit wenden.
Im Sommer war Sunak noch seiner Konkurrentin Liz Truss im Rennen um die Nachfolge von Premier Boris Johnson unterlegen. Doch Truss musste nach wenigen Wochen ihr Amt wieder abgeben – vor allem, weil sie mit ihrer Wirtschaftspolitik jene Finanzturbulenzen ausgelöst hatte, vor denen Sunak im Wahlkampf gewarnt hatte. Nun wird Sunak der jüngste Premierminister seit mehr als 200 Jahren. Er soll vermutlich an diesem Dienstag offiziell von König Charles III. mit der Regierungsbildung beauftragt werden. Der König reiste von seinem ostenglischen Landsitz Sandringham zurück nach London.
Fraktion und Partei gespalten
Der Jubel über Sunaks bevorstehenden Einzug in die Downing Street dürfte allerdings nicht lange andauern. Trotz des deutlichen Votums in der Tory-Fraktion – weit mehr als die Hälfte der Abgeordneten sprachen sich für Sunak aus – sind Fraktion und Partei gespalten. Der rechte Flügel fordert weiterhin eine radikalere Steuersenkungspolitik und eine harte Linie gegen die EU im Streit um Brexit-Sonderregeln für Nordirland. Wirtschaftsvertreter erhoffen sich eine ruhige Hand. «Die politische und wirtschaftliche Unsicherheit der vergangenen Monate hat dem britischen Geschäftsklima enorm geschadet und muss nun beendet werden», hiess es vom Handelskammerverbund.
Opposition zweifelt demokratisches Mandat an
Sunak ist bereits der dritte Premier innerhalb von vier Monaten. Angesichts der fehlenden Abstimmung bezweifelt die Opposition sein demokratisches Mandat und fordert Neuwahlen. Der Chef der Liberaldemokraten, Ed Davey, sagte, mit Sunak hätten die Tories erneut einen «abgehobenen Premierminister installiert, ohne Plan, den Schaden zu beheben und ohne dem britischen Volk ein Mitspracherecht zu geben». Labour-Vizechefin Angela Rayner kritisierte: «Die Tories haben Rishi Sunak zum Premierminister gekrönt, ohne dass er ein einziges Wort darüber gesagt hat, wie er das Land regieren würde, und ohne dass irgendjemand die Möglichkeit hatte, abzustimmen.» Der Fraktionschef der Schottischen Nationalpartei (SNP), Ian Blackford, rief Labour-Chef und Oppositionsführer Keir Starmer auf, ein Misstrauensvotum gegen Sunak im Unterhaus zu beantragen.
Weil die Tories in Umfragen weit abgeschlagen hinter der grössten Oppositionspartei Labour liegen, fürchten sie eine vorgezogene Abstimmung. Die Partei würde bei einer Parlamentswahl «völlig zerstört», sagte der ehemalige konservative Spitzenpolitiker Robert Hayward dem Sender Sky News. «Es gibt keinen sicheren Sitz mehr für die Konservative Partei.»
Verschiedene Parteiströmungen riefen die Tories dazu auf, sich hinter dem neuen Premier zu vereinen. «Die Zeit der internen Debatten ist endgültig vorbei, und ich weiss, dass wir unter Führung von Rishi Sunak die Prioritäten des britischen Volkes erfüllen können und werden», sagte Generalsekretär Jake Berry.
Der reichste Abgeordnete Grossbritanniens
Allerdings gilt Sunak vor allem an der Parteibasis als umstritten. Viele Mitglieder werfen ihm vor, mit seinem Rücktritt als Finanzminister Anfang Juli das Aus des skandalumwitterten, aber an der Basis noch immer sehr beliebten Ex-Premier Johnson ausgelöst zu haben. Auch sein Wohlstand sorgt für Zweifel, ob Sunak wirklich die Alltagsprobleme kennt. Der einstige Investmentbanker gilt als reichster Abgeordneter. Das liegt auch an seiner Ehefrau, die einen Hunderte Millionen Pfund schweren Anteil am indischen IT-Giganten Infosys hält. Ihr Vater gehörte zu den Gründern des Unternehmens.
Als Sohn indischer Einwanderer ist der in Southampton geborene Sunak der erste Premierminister, der einer ethnischen Minderheit in Grossbritannien angehört. Vertreter der grossen indischstämmigen Gemeinschaft in Grossbritannien sprachen angesichts der Wahl Sunaks von einem historischen Moment. Dies zeige, «dass das höchste Amt in Grossbritannien Menschen aller Glaubensrichtungen und ethnischen Hintergründen offen stehen kann», sagte Sunder Katwala von der Denkfabrik British Future. «Das wird viele britische Asiaten stolz machen – einschliesslich vieler, die Rishi Sunaks konservative Politik nicht teilen.» (awp/mc/pg)