Tote nach Raketentreffer auf Personenzug – Die Nacht im Überblick
Kiew – Nach ihrem Unabhängigkeitstag trauert die Ukraine um die vielen Todesopfer eines russischen Raketenangriffs auf einen Personenzug. Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach am späten Mittwochabend von mindestens 22 Toten. Der Zug war nahe dem Ort Tschaplyne im zentralukrainischen Gebiet Dnipropetrowsk getroffen worden. «Tschaplyne ist heute unser Schmerz», sagte Selenskyj. Wie vorher befürchtet gab es am Feiertag, einem symbolträchtigen Datum ein halbes Jahr nach Kriegsbeginn, auch an anderen Stellen des Landes schwere russische Angriffe mit Raketen und Marschflugkörpern.
Die Ukraine hatte am Mittwoch den 31. Jahrestag ihrer Unabhängigkeit von der Sowjetunion begangen. Die USA sagten der Ukraine an diesem historischen Datum Militärhilfen für drei Milliarden US-Dollar (rund drei Milliarden Euro) zu. Das Paket soll zur Verteidigung der Ukraine und zur Modernisierung ihrer Armee dienen. US-Präsident Joe Biden will in einem Telefonat mit Selenskyj am Donnerstag Einzelheiten besprechen. Für die Ukraine ist es der 183. Tag des Krieges.
Selenskyj: Die Ukraine wird ewig bestehen
«Unsere Unabhängigkeit endet nicht und wird niemals enden», sagte Selenskyj in seiner Videoansprache vom Mittwochabend. Trotz der bedrohlichen Lage werde es auch einen 32. Unabhängigkeitstag und einen 33. und alle folgenden geben. «Die Ukraine wird ewig bestehen.»
Angesichts der Gefahr russischer Angriffe waren die sonst üblichen Militärparaden am Feiertag abgesagt worden. Auf der Hauptstrasse Chreschtschatyk in Kiew wurden stattdessen zerstörte russische Panzer und anderes erbeutetes Kriegsgerät zur Schau gestellt. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer sahen sich das an. Der britische Premierminister Boris Johnson kam zu seinem dritten Besuch während des Krieges nach Kiew. Solidarität mit dem angegriffenen Land zeigten auch Tausende Menschen in deutschen Städten und vielen anderen Orten der Welt.
Auch wenn Russland es per Antrag zu verhindern versuchte, sprach Selenskyj am Mittwoch per Videoschalte zum UN-Sicherheitsrat in New York. Er betonte die globale Bedeutung des Abwehrkampfes gegen die russische Invasion. «Heute feiert unser Land den Unabhängigkeitstag, und jetzt kann jeder sehen, wie sehr die Welt von unserer Unabhängigkeit abhängig ist», sagte Selenskyj. Wenn Russland jetzt nicht aufgehalten werde, «werden russische Mörder wahrscheinlich in anderen Ländern landen – in Europa, Asien, Afrika, Lateinamerika».
Erster Angriff auf einen Personenzug
In dem halben Jahr seit dem Einmarsch in die Ukraine haben russische Truppen oft Eisenbahnanlagen beschossen, um ukrainische Nachschubwege zu unterbrechen. Im April wurden bei einem Raketentreffer auf den Bahnhofsvorplatz von Kramatorsk im Donbass nach ukrainischen Angaben 57 Menschen getötet. Bei Tschaplyne wurde aber wohl zum ersten Mal ein Personenzug getroffen. Erste noch nicht verifizierte Bilder zeigten mehrere ausgebrannte Waggons auf einem Bahndamm. Zu den 22 Toten rechnete Selenskyj auch fünf Opfer, die in einem Auto nahe der Gleise ums Leben gekommen waren.
In einem anderen Ort des Gebietes Dnipropetrowsk wurde nach Angaben der Gebietsverwaltung ein elfjähriges Kind durch Beschuss getötet. Dabei hatte der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu am Mittwoch gesagt, seine Armee habe ihre Angriffe verlangsamt, um die ukrainische Zivilbevölkerung zu schonen.
Den Feiertag über herrschte in der Ukraine immer wieder Luftalarm. Im Gebiet Chmelnyzkyj im Westen des Landes waren nachmittags schwere Explosionen zu hören, wie Gouverneur Serhij Hamalij mitteilte. Wenige Minuten zuvor hatten oppositionelle belarussische Aktivisten angeblich den Abschuss von vier Raketen aus Belarus registriert. Auch zwei russische Bomber seien von dort gestartet. Die Angaben liessen sich nicht unabhängig überprüfen. Machthaber Alexander Lukaschenko stellt Belarus den russischen Truppen als Aufmarschgebiet zur Verfügung. Die ukrainische Armee griff ihrerseits in der Nacht auf Donnerstag russische Munitionsdepots hinter der Front an.
Rüstungshilfe für drei Milliarden US-Dollar
Mit dem Geld aus dem neuen US-Rüstungspaket könne die Ukraine Luftabwehrsysteme, Artilleriesysteme und Munition sowie Drohnen und Radargeräte erwerben, «um sich langfristig verteidigen zu können», sagte Biden. Der US-Präsident gratulierte der Ukraine zu ihrem Jahrestag. Dieser zeige, «dass die Ukraine stolz darauf ist, eine souveräne und unabhängige Nation zu sein – und es auch bleiben wird». Die Vereinigten Staaten seien entschlossen, das ukrainische Volk im Kampf um die Verteidigung seiner Souveränität zu unterstützen.
Russlands Präsident Wladimir Putin scheine zu glauben, dass sein Land mit dem stärkeren Kampfeswillen über die Ukraine und die internationale Gemeinschaft triumphieren könne, sagte ein Sprecher des US-Verteidigungsministeriums. «Dieses US-Paket ist ein greifbarer Beweis dafür, dass dies eine weitere russische Fehlkalkulation ist.»
Baerbock: Haben Vertrauen in Osteuropa verspielt
Der Unabhängigkeitstag sei ein Anlass zu prüfen, wie die Ukraine unterstützt werden könne, sagte Bundesaussenministerin Annalena Baerbock (Grüne) dem ZDF-«Heute-Journal» am Mittwoch. Neue Waffenlieferungen aus Deutschland bewegten sich aber auf einem «schmalen Grat», denn die Bundeswehr sei selbst mangelhaft ausgerüstet.
Baerbock gestand ein, dass Deutschland durch die Zögerlichkeit bei der Hilfe für Kiew Ansehen bei seinen osteuropäischen Nachbarn verspielt habe. Auch das Beharren auf der Fertigstellung der Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 habe Porzellan zerschlagen. «Mit dem Festhalten an Nord Stream 2 haben wir nicht auf die Sorgen unserer baltischen und osteuropäischen Freunde gehört», sagte die Ministerin. (awp/mc/ps)