Ukrainische Regierungstruppen an einem Checkpoint in der Nähe von Slowjansk. (Archivbild)
Kiew – Fünf Monate ist in der Ostukraine Blut geflossen – nun gilt die erste unbefristete, beidseitige Feuerpause. Die Menschen in der Krisenregion atmen durch. In der Hafenstadt Mariupol flattert an diesem spätsommerlichen Septembertag Wäsche auf dem Balkon eines zerbombten Hauses. Unten auf den Strassen sammeln Bewohner Blindgänger und Patronenhülsen auf, wie das Fernsehen zeigt. Doch die Ruhe trügt.
Noch vor Morgengrauen schlagen Granaten in Mariupol ein. Sie töten eine 33 Jahre alte Frau und verletzen drei Männer – die ersten Opfer seit Beginn der Waffenruhe. Beide Seiten beschuldigen sich gegenseitig, die Geschosse abgefeuert zu haben.
Trotz der neuen Spannungen wollen die Konfliktparteien ihre Hoffnung auf ein baldiges Ende des Krieges noch nicht aufgeben. «Wir halten an den Vereinbarungen der Minsker Konferenz von Freitag fest», sagt Wladimir Polewoi vom nationalen Sicherheitsrat in der Hauptstadt Kiew.
Ringen um Formel für Frieden
Seit Wochen ringen die prowestliche Führung der Ex-Sowjetrepublik und die moskautreuen Separatisten um eine Formel für Frieden. «Die Lösung soll allen Beteiligten erlauben, die Toten, Zerstörungen und immensen Kosten vor ihren Unterstützern als sinnhaft erscheinen zu lassen», sagt der Moskauer Politologe Dmitri Trenin. Fast 3000 Menschenleben hat der Schlagabtausch zwischen Armee und Aufständischen bisher gekostet.
Die Separatisten wissen die Unterstützung Russlands im Rücken. Entsprechend selbstbewusst sind ihre Forderungen: weitgehende Selbstständigkeit der von ihnen kontrollierten Gebiete und der komplette Rückzug der Armee. Zu diesen Zugeständnissen ist die ukrainische Regierung aber nicht bereit.
Auch in Kiew ist die Ausgangslage komplex. Die Parteien bringen sich vor der Parlamentswahl am 26. Oktober in Stellung. Jedes Nachgeben kann im Wahlkampf wichtige Punkte kosten. Die Gespräche mit den Separatisten führen durch viele politische Minenfelder.
«Poroschenko denkt nach, aber Putin denkt vor»
Kritiker des ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko werfen dem Staatschef vor, in Gesprächen mit Kremlchef Wladimir Putin über die Krise im Osten des Landes zu nachgiebig zu sein. Die jetzige Regelung einer Feuerpause entspreche ganz der Absicht Moskaus, den Konflikt «einzufrieren». Schon macht in Kiew die Parole die Runde: «Poroschenko denkt nach, aber Putin denkt vor.»
Doch ein Blick auf das in der weissrussischen Hauptstadt Minsk vereinbarte Protokoll zeigt Experten zufolge, dass dies so nicht stimme. Das Abkommen von vergangenem Freitag entspreche weitgehend dem von Poroschenko im Juni präsentierten Friedensplan. Für den erheblich unter Druck stehenden Staatschef ist es ein kleiner Erfolg.
Alptraum könnte weitergehen
Allerdings muss die Regierung in wesentlichen Punkten Zugeständnisse machen. So ist eine grundsätzliche Entwaffnung der Separatisten nicht mehr vorgesehen. Lediglich «ungesetzlich bewaffnete Formationen» sollen das Land verlassen. Dagegen betrachten sich die Aufständischen bereits als eigenständige Staaten mit eigenen Gesetzen. Wie das in Einklang gebracht werden soll, gibt das Protokoll nicht preis. Denn eine Anerkennung wird den Rebellen in dem Dokument verwehrt.
Der Alptraum könnte also weitergehen. Beobachter geben der Feuerpause und einer weiteren friedlichen Lösung des Konflikts nur wenig Chancen. Beide Seiten würden die Waffenruhe zur Verstärkung ihrer Einheiten nutzen, dann flammten die Kämpfe wieder auf, meinen viele. Am Wochenende kündigten die Aufständischen bereits die Ankunft von insgesamt 4500 neuen «Freiwilligen» an. Nach der letzten derartigen Nachricht musste die Armee massive Niederlagen hinnehmen. (awp/mc/ps)