Der Krieg und seine Folgen: Bis zu 1,4 Mrd Menschen könnten von Nahrungsmittelknappheit betroffen sein
Genf – Der Krieg in der Ukraine könnte laut den Vereinten Nationen massive globale Auswirkungen haben. Etwa 1,4 Milliarden Menschen könnten von Nahrungsmittelknappheit betroffen sein, wenn Exporte von Getreide aus der Ukraine und Dünger aus Russland weiter ausblieben, sagte Amin Awad, der UN-Krisenkoordinator für die Ukraine.
Es sei deshalb unbedingt notwendig, dass die Handelsrouten über das Schwarze Meer nicht länger blockiert bleiben. «Wenn die Öffnung der Häfen scheitert, wird das Hunger, Destabilisierung und Massenmigration auf der ganzen Welt zur Folge haben», sagte Awad in Kiew.
100 Tage nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine sind laut dem UN-Vertreter 15,7 Millionen Menschen in dem Land auf humanitäre Hilfe angewiesen. Fast 14 Millionen sind geflohen und haben innerhalb des Landes oder im Ausland Schutz gesucht.
Tschad ruft den Notstand aus
Der zentralafrikanische Tschad hatte am Donnerstag aufgrund der mangelnden Getreidelieferungen im Zuge des Ukraine-Kriegs einen Ernährungsnotstand ausgerufen. Die Lebensmittelsituation habe sich seit Jahresanfang extrem verschlechtert – internationale humanitäre Hilfe sei dringend notwendig, teilte die Militärregierung mit. Nach Angaben der Vereinten Nationen werden 5,5 Millionen Menschen im Tschad – ein Drittel der Bevölkerung – dieses Jahr auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen sein.
Afrika importiert knapp die Hälfte des Weizens aus der Ukraine und Russland
Die Ukraine und Russland sind die grössten Weizen-Exporteure weltweit. Afrikas 54 Länder importieren nach Angaben der Vereinten Nationen knapp die Hälfte ihres Weizens aus der Ukraine und Russland. Russland ist ausserdem ein wichtiger Düngemittellieferant für ein Dutzend afrikanische Länder.
60 Millionen Menschen in der Sahelzone von Hunger bedroht
Der Tschad ist eines von vielen Ländern in der Sahelzone, dem eine Hungerkrise bevorsteht. Das Horn von Afrika, vor allem Äthiopien, Kenia, Sudan und Somalia, ist mit der schlimmsten Trockenheit seit 40 Jahren konfrontiert. Auch Westafrika steht laut der UN kurz vor der schlimmsten Nahrungsmittelkrise seit zehn Jahren. Nach Angaben von Hilfsorganisationen könnten allein in der gesamten Sahelregion bald 60 Millionen Menschen hungern.
Putin trifft Chef der Afrikanischen Union
Während Russland ukrainisches Getreide blockiert, hat sich Kremlchef Wladimir Putin am Freitag in Sotschi mit dem Präsidenten der Afrikanischen Union, Macky Sall, getroffen. Sall traf den russischen Präsidenten, um eine Aufhebung der Ausfuhrblockade zu fordern. «Afrika ist der Situation völlig ausgeliefert», hatte Sall vor seiner Reise geklagt. Die Afrikanische Union plädiere für einen Waffenstillstand, ein Ende des Krieges und die Freigabe aller Lebensmittelprodukte, um eine Hungersnot abzuwenden.
Russland hingegen will erreichen, dass die Afrikanische Union sich im Westen dafür einsetzt, dass die Sanktionen gegen Moskau im Zuge von Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine aufgehoben werden. Weil russische Frachtschiffe mit Sanktionen belegt seien, könnten diese kein Getreide exportieren, hatte Moskaus Aussenminister Sergej Lawrow gesagt. Der Westen behaupte zwar, dass Lebensmittel nicht mit Sanktionen belegt seien, verschweige aber zugleich, dass sie nicht transportiert werden könnten, sagte Lawrow.
Getreidepreise auf Weltmarkt im Mai gestiegen
Getreide ist auf dem Weltmarkt im vergangenen Monat teurer geworden. Die Preise etwa für Weizen seien den vierten Monat in Folge gestiegen und lagen im Mai 5,6 Prozent über dem Niveau des Vormonats April und 56,2 Prozent über dem Durchschnittspreis vom Mai 2021, wie die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) der Vereinten Nationen (UN) am Freitag in Rom mitteilte. Den Anstieg führten die Experten auf einen angekündigten Export-Stopp Indiens und den russischen Angriffskrieg in der Ukraine zurück, wo wegen des Konflikts geringere Produktionsmengen erwartet werden.
Die Berechnungen beziehen sich auf den internationalen Grosshandel und stehen nicht für die Preise, die Verbraucher im Handel bezahlen. Die FAO schätzt weiter, dass in diesem Jahr weniger Getreide produziert werden könnte. Es wäre demnach das erste Mal in vier Jahren, dass die Produktion sinkt.
Anders als beim Getreide sanken den FAO-Daten zufolge im Mai die Preisindizes für pflanzliche Öle, Milchprodukte und Zucker verglichen mit April. Fleisch verteuerte sich dagegen. Der Preisindex dafür erreichte ein neues Allzeithoch. Die Statistiker führten diese Entwicklung auf gestiegene Geflügelpreise zurück, die durch den Ukraine-Krieg und Ausbrüche der Vogelgrippe bei einer gleichzeitig gestiegenen Nachfrage in Europa und dem Nahen Osten bedingt wurde. (awp/mc/pg)