Tränengasschwaden im Gezi Park in Istanbul.
Istanbul – Tränengasgranaten explodieren. Die Polizei rückt mit Schild und Knüppel wie eine antike Legion in das Lager der Protestbewegung im Gezi-Park ein. Menschen fliehen in Panik, andere versuchen vergeblich auszuharren. Nach Signalen der Entspannung hat Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan mit einem Grosseinsatz der Polizei nun ganz auf Gewalt gesetzt. Polizisten schiessen mit Gummigeschossen oder feuern aus kurzer Distanz Tränengasgranaten gezielt auf die Körper von Menschen ab. Andere Polizisten stellen Flüchtenden nach, wie Augenzeugen berichten. Aus den wabernden Tränengasschwaden retten sich Demonstranten in umliegende Luxus-Hotels, die ihre Türen auch für die zahlreichen Verletzten öffnen und improvisierte Krankenstationen möglich machen.
Sogar bis in die Hotels stellt die Polizei den Demonstranten nach, während in mehreren Stadtvierteln heftige Proteste beginnen. Die Polizei habe auch in den Eingang des Divan-Hotels Tränengas abgefeuert, sagen Augenzeugen. Die deutsche Grünen-Politikerin Claudia Roth hat in Istanbul entsetzt miterlebt, wie das Protestlager am Taksim-Platz geräumt wurde. «Das ist wie im Krieg. Die jagen die Leute durch die Strassen und feuern gezielt mit Tränengas-Granaten auf die Menschen», sagt die Parteivorsitzende der Grünen, die selber bitter brennendes Gas abbekommt.
«Schüsse wie eine Bombe»
Alles sei friedlich gewesen, als die Polizei plötzlich eingegriffen habe, sagt sie. «Von einer Sekunde auf die andere kamen Schüsse wie eine Bombe», sagt sie. Sie habe sich in ein Hotel gerettet. «Die haben echt auf die Leute geschossen. Es war wie eine Jagd auf Menschen», sagt sie zum gezielten Feuer mit Tränengasgranaten. «So muss Krieg in Innenstädten sein» sagt Roth. «Und wenn du dich mit humanitärem Völkerrecht beschäftigst, dann gibt es ja Regeln. Die Regeln sagen, dass da, wo Verletzte behandelt werden, nicht angegriffen wird.»
«Öl ins Feuer gegossen»
In Istanbul regiert die Wut über den Einsatz. «Damit hat Erdogan Öl ins Feuer gegossen», schreit eine junge Frau in der Nacht 50 Meter vor der Polizeiabsperrung am Taksim-Platz entfernt. Zehntausende demonstrieren wütend gegen die Räumung des Protestlagers. «Das ist nur der Anfang. Wir lassen uns jetzt keine Angst mehr machen», sagt die Frau. In den Vierteln rund um den Taksim-Platz gibt es in der Nacht viele Zusammenstösse. Die Demonstranten – viele mit Helmen und Staubmasken ausgerüstet – versuchen, ihre Stellung zu halten und ihrer Wut Luft zu machen. Sie werden aber immer mehr in die kleinen Nebenstrassen abgedrängt. Anwohner öffnen ihre Türen, um Unterschlupf zu gewähren. Viele klopfen aus Protest auf Töpfe und Pfannen.
Die Protestbewegung hatte am Samstag entschieden, dass die Proteste fortgesetzt werden, weil wesentliche Forderungen wie eine Bestrafung der Verantwortlichen für Polizeigewalt nicht erfüllt seien. Erdogan dagegen suchte einen Kompromiss nur über den Gezi-Park. Mit der Räumung habe er nun eine Demonstration seiner Macht beabsichtigt, sagen Mitglieder der Protestbewegung. Seine Taktik, die Demonstranten gewaltsam zum Schweigen zu bringen, werde aber nicht aufgehen. (awp/mc/ps)