Kiew / Brüssel – Die Ukraine hat angesichts von immer grösserer Zerstörung und der Flucht von Millionen Menschen durch den russischen Angriffskrieg die Deutschen zu einem Boykott von russischem Gas und anderer Güter aufgerufen. «Sponsert bitte nicht die Kriegsmaschine von Russland», sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Montag in einer Videobotschaft, die in den sozialen Medien verbreitet wurde. Die Ukrainer weigern sich, in der schwer zerstörten Hafenstadt Mariupol zu kapitulieren. Die EU geht angesichts des unvermindert tobenden Kriegs von acht Millionen ukrainischen Flüchtlingen aus.
Trotz neuer Gespräche zwischen russischen und ukrainischen Vertretern gibt es weiter keine sichtbaren Fortschritte. Moskau sieht nach wie vor keine Voraussetzungen für ein Treffen von Präsident Wladimir Putin mit dem ukrainischen Staatschef. «Sie haben einfach nichts zum Festklopfen, keine Vereinbarungen, die sie festhalten könnten», sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow der Agentur Interfax zufolge noch vor den Gesprächen.
Angriffe auch auf Odesa
In der Hauptstadt Kiew kamen in der Nacht zu Montag mindestens acht Menschen beim Beschuss von Wohnhäusern und einem Einkaufszentrums ums Leben. Auch in der Hafenstadt Odessa soll es russische Angriffe gegeben haben. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums in Moskau wurden im Nordwesten der Ukraine mehr als 80 Kämpfer der ukrainischen Seite auf dem Truppenübungsplatz Nowa Ljubomyrka im Gebiet Riwne bei einem Raketenangriff getötet. Die Angaben zum Kampfgeschehen waren nicht unabhängig zu überprüfen.
Moskau kündigte weitere Angriffe mit der Hyperschall-Rakete «Kinschal» (Dolch) an. «Die Angriffe dieses Luft-Raketensystems auf die ukrainische Militärinfrastruktur während der militärischen Spezial-Operation werden fortgesetzt», sagte der Sprecher des Verteidigungsministeriums in Moskau, Igor Konaschenkow. Russland hatte die neue Rakete in den vergangenen Tagen in der Ukraine nach eigenen Angaben zwei Mal eingesetzt.
Ukraine will in Mariupol nicht kapitulieren
Die Ukraine lehnte ein Ultimatum des russischen Militärs zur Aufgabe der seit Wochen belagerten Hafenstadt Mariupol im Osten ab. «Es wird keine Kapitulation, kein Niederlegen der Waffen geben», sagte Vize-Regierungschefin Iryna Wereschtschuk der «Ukrajinska Prawda». Russland hatte am Sonntag die ukrainischen Truppen aufgefordert, die Waffen niederzulegen und die Stadt im Südosten der Ukraine am Montagvormittag über einen Fluchtkorridor zu verlassen. Der prorussische Donezker Separatistenführer Denis Puschilin sagte dem russischen Staatsfernsehen, er gehe nicht davon aus, dass die Kontrolle über die Stadt in «zwei, drei Tagen oder sogar einer Woche» erlangt werden könne. Die Stadt sei gross.
Der griechische Konsul zu Mariupol, Manolis Androulakis, der als einer der letzten westlichen Diplomaten die Stadt verliess, gab eine düstere Prognose ab: «Mariupol wird sich einreihen bei jenen Städten, die durch Krieg vollständig zerstört wurden – ob Guernica, Coventry, Aleppo, Grosny oder Leningrad», sagte er in Athen. «Es gab kein Leben mehr – binnen 24 Stunden wurde die gesamte Infrastruktur zerstört. Es wurde einfach alles bombardiert.»
Selenskyj: Deutsche müssen Russen Geldhahn zudrehen
Nur wenige Tage nach seiner dramatischen Videobotschaft an den Bundestag wandte sich der ukrainische Präsident erneut an die Deutschen: «Ohne Handel mit Ihnen, ohne Ihre Unternehmen und Banken wird Russland kein Geld für diesen Krieg haben.» Niemand habe das Recht, Völker zu vernichten und Europa aufzuteilen. Deutschland lehnt bisher ein Embargo für russische Energie-Lieferungen ab, als Grund werden schwere Schäden für die deutsche Wirtschaft genannt. Laut Angaben des Betreibers des ukrainischen Gastransportsystems sind seit Kriegsbeginn am 24. Februar knapp 2,5 Milliarden Kubikmeter russisches Erdgas in Richtung Westen gepumpt worden.
Auch der tschechische Ministerpräsident Petr Fiala forderte eine Ausweitung der EU-Sanktionen gegen Russland. «Die ganze Welt sieht, dass Wladimir Putin Kriegsverbrechen begeht und in seinem Krieg unschuldige Menschen sterben», schrieb er bei Twitter. Weitere Sanktionen seien der einzige Weg, Putin zu stoppen. Litauens Aussenminister Gabrielius Landsbergis warnte vor Sanktionsmüdigkeit. Es sei unvermeidlich, über den Energiesektor zu sprechen.
Kreml warnt vor Folgen eines EU-Ölembargos
Russlands Führung warnte die EU vor den Konsequenzen eines möglichen Embargos für russische Öllieferungen. «Ein solches Embargo hätte sehr schwerwiegende Auswirkungen auf den weltweiten Ölmarkt und auf die Energiebilanz des europäischen Kontinents», sagte Kremlsprecher Peskow. Die USA hätten bereits einen Lieferstopp für russisches Öl verhängt. Die Amerikaner würden dabei nichts verlieren und am Ende besser dastehen als die Europäer.
Über zehn Millionen Ukrainer heimatlos
Die EU geht mittlerweile davon aus, dass etwa acht Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen werden müssen. Bundesaussenministerin Annalena Baerbock sagte in Brüssel: «Ich glaube, wir müssen uns sehr bewusst machen, dass bereits über drei Millionen Menschen geflohen sind, dass aber viele, viele weitere Millionen Menschen fliehen werden.»
Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden durch den Krieg zehn Millionen Menschen und damit knapp ein Viertel der ukrainischen Bevölkerung vertrieben. 6,5 Millionen Menschen seien im Land auf der Flucht, 3,5 Millionen hätten das Land verlassen. 2,1 Millionen hätten sich in Polen in Sicherheit gebracht. Das Tempo der Fluchtbewegung sei beispiellos in der jüngeren Geschichte, hiess es bei den UN.
Biden reist Ende der Woche nach Polen
Biden will am Freitag nach Polen reisen. Er werde zunächst wie geplant an diesem Donnerstag an den Gipfeln der Nato, der EU und der G7-Staaten in Brüssel teilnehmen, teilte das Weisse Haus mit. In Polen sei am Samstag ein Treffen mit Präsident Andrzej Duda geplant. Dabei solle es um die humanitäre Krise gehen, «die der ungerechtfertigte und grundlose Krieg Russlands gegen die Ukraine ausgelöst hat». Am Montag will Biden per Video mit Scholz, Frankreichs Präsidenten Emmanuel Macron, dem italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi und dem britischen Premierminister Boris Johnson beraten. Die EU beschloss eine neue militärische Eingreiftruppe. Sie soll 2025 einsatzfähig sein.
Russland schaltet Facebook und Instagram ab
Die Internet-Zensur in Russland nimmt weiter zu: Die Plattformen Facebook und Instagram sind als «extremistisch» verboten worden. Ein entsprechender Antrag der Generalstaatsanwaltschaft wurde von einem Gericht in Moskau angenommen. Die beiden Dienste sind in Russland bereits blockiert, der ebenfalls zum US-Konzern Meta gehörende Messenger-Dienst WhatsApp soll dem Gericht zufolge aber nicht betroffen sein. Hintergrund des Vorgehens der russischen Justiz ist eine Entscheidung von Meta, Aufrufe zur Gewalt gegen russische Truppen in der Ukraine zuzulassen. Auch der Kurznachrichtendienst Twitter ist nicht mehr aufrufbar. (awp/mc/pg)