Kramatorsk – Leichen, Blutlachen und verstreutes Gepäck: Es sind grausame Bilder von Tod und Verwüstung in Kramatorsk. Bei einem Raketenangriff auf den Bahnhof der ostukrainischen Stadt wurden Dutzende Menschen getötet. Der Gouverneur des Gebiets Donezk, Pawlo Kyrylenko, sprach am Freitag von 50 Toten, davon 5 Kinder. Knapp 100 Menschen wurden verletzt.
Etwa 4000 Menschen hätten sich am Bahnhof aufgehalten, sagte Bürgermeister Olexander Hontscharenko. Die ukrainischen Behörden hatten angesichts einer erwarteten russischen Offensive die Bevölkerung der Gebiete Donezk und Luhansk zur Flucht aufgerufen. Kramatorsk wird von ukrainischen Truppen kontrolliert, gilt aber als Ziel der Russen.
Videos vom Vortag vermitteln ein Bild davon, wie chaotisch die Lage gewesen sein mag. Viele Menschen, die Koffer und Taschen bei sich hatten, wollten aus Angst vor Angriffen die Stadt verlassen. Dann schlugen vermutlich zwei Raketen ein. Im Nachrichtendienst Telegram kursiert ein Video, das den Abschuss aus der Nähe von Schachtarsk zeigen soll. Die Stadt liegt in der von prorussischen Separatisten kontrollierten Region des Gebiets Donezk.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj gab Russland die Schuld. «Da ihnen die Kraft und der Mut fehlen, sich auf dem Schlachtfeld gegen uns zu behaupten, zerstören sie zynisch die Zivilbevölkerung», schrieb er bei Instagram. «Dies ist ein Übel, das keine Grenzen kennt. Und wenn es nicht bestraft wird, wird es nie aufhören.»
Der Angriff geschah am selben Tag, an dem EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der EU-Aussenbeauftragte Josep Borrell als Zeichen der Unterstützung mit einem Zug nach Kiew reisten. Als «verabscheuungswürdig» verurteilte von der Leyen den Angriff auf Kramatorsk. Borrell twitterte: «Dies ist ein weiterer Versuch, Fluchtrouten zu schließen für diejenigen, die diesem ungerechten Krieg entfliehen wollen, und menschliches Leid herbeizuführen», twitterte er.
Russland weist – einmal mehr – Vorwürfe zurück
Russland wies die Vorwürfe hingegen strikt zurück. Das Verteidigungsministerium in Moskau sprach von einer «Provokation». «Unsere Streitkräfte nutzen diesen Raketentyp nicht», sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow russischen Agenturen zufolge. Im Blick hatte er den mutmasslich verwendeten Typen Totschka-U.
Militärexperten bezweifeln diese Darstellung. Am Vortag hatten Investigativreporter berichtet, dass die in Belarus stationierten russischen Truppen mehrere Totschka-U erhalten hätten. In einer gemeinsamen Übung von russischen und belarussischen Truppen waren Totschka-U verwendet worden. Die Raketen gelten als weniger zielgenau als die Iskander, die Russland häufig eingesetzt hat. Totschka-U können verbotene Streumunition transportieren – dies sei in Kramatorsk der Fall gewesen, sagen die Ukrainer.
Kremlsprecher Peskow sagte: «Es gab keine Kampfeinsätze in Kramatorsk, und es waren heute auch keine geplant.» Die Separatisten, die Anspruch auf das gesamte Verwaltungsgebiet Donezk erheben, gaben der Ukraine die Schuld. Sie behaupten immer wieder, ukrainische «Nationalisten» würden die Zivilbevölkerung als Schutzschilde nutzen und deren Evakuierung verhindern. Beweise dafür legen sie nicht vor.
Der Angriff auf Kramatorsk lenkt das Augenmerk noch stärker auf den Donbass. Russland hatte angekündigt, seine Angriffe auf die Region zu konzentrieren und wohl auch deshalb seine Truppen aus der Nordukraine abgezogen. Dort war der Angriff auf Kiew nach Ansicht westlicher Militärexperten gescheitert. Der Kreml nennt den Rückzug hingegen ein «Zeichen des guten Willens», um Vertrauen für Verhandlungen zu schaffen.
Kämpfe in Ostukraine gehen weiter
Doch die Kämpfe in der Ostukraine gehen weiter. In der Nacht zum Freitag meldete der ukrainische Generalstab, mehrere russische Vorstösse hätten keinen Erfolg gehabt. Allerdings ziehe der Feind weiter Truppen zusammen. «Wir spüren das Ende der Vorbereitungen für diesen grossen Kampf, den wir in den Regionen Luhansk und Donezk haben werden», sagte der Gouverneur von Luhansk, Serhij Hajdaj.
Auch die Ukraine verstärkt ihre Stellungen. An der östlichen Front kämpfen seit Kriegsbeginn die erfahrensten Truppen, die in den vergangenen Jahren bereits den Separatisten gegenüberstanden. Ausssenminister Dmytro Kuleba warb bei der Nato in Brüssel um deutlich mehr Waffen. «Die Schlacht um den Donbass wird Euch an den Zweiten Weltkrieg erinnern, mit grossen Operationen, Tausenden Panzern, gepanzerten Fahrzeugen, Flugzeugen und Artillerie», sagte Kuleba. (awp/mc/ps)