Russland nimmt Kiew ins Visier – Explosion beim Fernsehturm
Kiew/Moskau – Trotz aller internationalen Friedensappelle hat Russland seine Angriffe auf die Ukraine verschärft und nimmt die Hauptstadt Kiew immer stärker ins Visier. Bei einem mutmasslichen Raketenangriff auf den Fernsehturm in Kiew wurden am Dienstag mindestens fünf Menschen getötet, wie der Zivilschutz mitteilte. Auf die Hauptstadt bewegte sich ein riesiger Militärkonvoi von mehr als 60 Kilometern Länge zu. Auch aus der zweitgrössten Stadt Charkiw wurde eine heftige Explosion gemeldet. Nach US-Angaben scheinen die russischen Truppen beim Vormarsch jedoch Probleme mit der Versorgung zu haben. Darüber hinaus sei der Widerstand der ukrainischen Streitkräfte wohl grösser als von russischer Seite erwartet.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und UN-Generalsekretär António Guterres forderten den russischen Präsidenten Wladimir Putin erneut auf, den Krieg sofort zu beenden. Die Vereinten Nationen stellen sich auf die Versorgung von bis zu vier Millionen Flüchtlingen ein.
Die militärische Lage
Die russischen Angriffe konzentrierten sich am Tag sechs des Einmarsches weiter auf die grossen Städte, die nach Darstellung des ukrainischen Aussenministeriums jetzt mit Raketen beschossen werden. Aus Kiew wurde von der Agentur Unian ein Raketenangriff auf den Fernsehturm gemeldet, der aber stehenblieb. Darüber hinaus gab es einen Luftangriff in der Nähe der Holocaust-Gedenkstätte Babyn Jar in Kiew. Bürgermeister Vitali Klitschko bezeichnete die Lage als «bedrohlich». Das Verteidigungsministerium in Moskau hatte der Agentur Interfax zufolge kurz zuvor mitgeteilt, die Informationsinfrastruktur des ukrainischen Geheimdienstes in Kiew gezielt angreifen zu wollen.
Das ukrainische Aussenministerium veröffentlichte bei Twitter ein Video, das einen Raketeneinschlag direkt auf dem zentralen Freiheitsplatz in Charkiw zeigt. «Russland führt Krieg unter Verletzung des humanitären Völkerrechts», twitterte das Aussenministerium in Kiew. Moskau weist den Vorwurf zurück.
Die ukrainische Regierung beschuldigt Russland, Zivilisten zu töten und zivile Infrastruktur zu zerstören. Unabhängig überprüfen lassen sich die Informationen über das Kriegsgeschehen nicht. Dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen zufolge wurden bislang mindestens 136 Zivilisten getötet.
Kilometerlanger Konvoi auf dem Weg nach Kiew
Als sicher gilt, dass die russischen Truppen ihren Vormarsch auf Kiew fortsetzen. Satellitenbilder aus der Nacht zum Dienstag zeigten einen gewaltigen Konvoi aus Panzern und anderen Militärfahrzeugen. US-Verteidigungskreisen zufolge will das russische Militär die Hauptstadt trotz des starken ukrainischen Widerstandes einnehmen.
Schwere Kämpfe in Mariupol
Die Hafenstadt Mariupol im Südosten der Ukraine ist weiter heftig umkämpft. Die russischen Separatisten kündigten an, für Einwohner zwei «humanitäre Korridore» einzurichten. Die Menschen könnten die Stadt bis Mittwoch verlassen, sagte der Sprecher der Aufständischen im Gebiet Donezk der Agentur Interfax zufolge.
Ukraine bietet russischen Soldaten Geld für Aufgabe
Die Ukraine wiederum bot russischen Soldaten Straffreiheit und Geld an, wenn sie sich ergeben. Geboten werden jedem Soldaten umgerechnet mehr als 40 000 Euro. Ukrainischen Angaben zufolge sollen bisher mindestens 200 russische Soldaten gefangen genommen worden sein.
Das US-Verteidigungsministerium erklärte derweil, die russischen Truppen hätten inzwischen Probleme, die eigenen Soldaten mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Insgesamt hätten die Russen bei ihrer Offensive zuletzt keine grösseren Fortschritte gemacht. Auf mehrfache Nachfrage, auf welchen Informationen und Quellen genau die Angaben über Probleme auf russischer Seite beruhten, äusserte sich der Pentagon-Vertreter ausdrücklich nicht. Dazu könne er öffentlich keine Angaben machen. Hinweise darauf, dass belarussische Truppen in die Ukraine einmarschierten, gebe es nicht.
Politische Verteidigungs- und Angriffslinien
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj verlangte in einem emotionalen Appell an das Europaparlament die Aufnahme seines Landes in die Europäische Union. «Wir kämpfen für unsere Rechte, für unsere Freiheit, für unser Leben. Und nun kämpfen wir ums Überleben», sagte er zu Beginn einer Sondersitzung in einer Videobotschaft.
Russlands Präsident Wladimir Putin bekräftigte dagegen seine Bedingungen für eine Beendigung der «Militär-Operation». Die Regierung in Kiew müsse die «Volksrepubliken» Luhansk und Donezk sowie Russlands Souveränität über die Schwarzmeer-Halbinsel Krim anerkennen, teilte der Kreml mit. Zudem müsse die Ukraine entmilitarisiert und in einen neutralen Status überführt werden.
Lawrow: Ukraine Bedrohung der internationalen Sicherheit
Russlands Aussenminister Sergej Lawrow warf der Ukraine eine Bedrohung der internationalen Sicherheit vor. Die Regierung in Kiew wolle eigene Atomwaffen, sagte Lawrow per Video vor der Ständigen Abrüstungskonferenz in Genf. Auf dem ukrainischen Territorium befänden sich noch sowjetische Nukleartechnologie und die Mittel, so bestückte Waffen abzuschiessen, sagte Lawrow der englischen UN-Übersetzung zufolge. Von der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA hatte es in der vergangenen Woche geheissen, sie sehe keinerlei Belege für die Behauptungen über ein mögliches Atomwaffenprogramm in der Ukraine.
Aus Protest gegen den russischen Krieg in der Ukraine verliessen Diplomaten in Genf vor Lawrows Rede den Saal des UN-Menschenrechtsrats. An der vorab koordinierten Aktion waren die deutsche Botschafterin Katharina Stasch sowie Dutzende weitere Delegationen beteiligt.
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg schloss eine Beteiligung des Militärbündnisses am Ukraine-Krieg erneut aus.
Zahl der Flüchtlinge steigt
Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine sind nach UN-Angaben bereits 677 000 Menschen in Nachbarländer geflüchtet. Rund die Hälfte sei in Polen angekommen, sagte der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, Filippo Grandi, in Genf. Rund 90 000 seien in Ungarn und Zehntausende in anderen Nachbarländern wie Moldau, Slowakei und Rumänien.
Hilfen für die Ukraine
Die USA planen weitere milliardenschwere Hilfen für die Ukraine. Die Regierung von Präsident Joe Biden beantragte beim Kongress ein Paket mit einem Umfang von 6,4 Milliarden Dollar (5,7 Milliarden Euro), das zusätzlich zur jüngsten militärischen Soforthilfe der US-Regierung mit einem Volumen von 350 Millionen Dollar kommen soll.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kündigte in einer Sondersitzung des EU-Parlaments 500 Millionen Euro an humanitärer Hilfe an. Die Summe soll die bereits angekündigten 500 Millionen Euro der Europäischen Union für Waffenlieferungen an die Ukraine ergänzen. (awp/mc/pg)