Ukraine: Russland will Sieg bei Donezk erzwingen
Kiew – Russland versucht nach Kiewer Einschätzung mit verstärkten Angriffen nahe der ostukrainischen Grossstadt Donezk einen militärischen Erfolg zu erzwingen. Der Generalstab der Ukraine berichtete am Dienstagabend von einer Vielzahl russischer Angriffe bei Awdijiwka und Marjinka.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sah dabei einen Zusammenhang mit der kommenden Präsidentenwahl in Russland 2024. Kremlchef Wladimir Putin wolle zuvor unbedingt einen Erfolg vorweisen können, sagte er in Kiew.
Gleichzeitig äusserte sich die ukrainische Führung erstmals zu einem Brückenkopf auf dem eigentlich russisch besetzten Südufer des Flusses Dnipro bei Cherson. Die Ukraine wehrt seit fast 21 Monaten mit westlicher Hilfe eine grossangelegte russische Invasion ab. Das ukrainische Militär zählt am Mittwoch den 630. Kriegstag.
Dutzende russische Angriffe bei Donezk
Entlang der gesamten Front habe es am Dienstag 57 Gefechte gegeben, schrieb der Generalstab in seinem Lagebericht am Abend. Allein 18 Angriffe habe die Ukraine bei den Orten Marjinka und Nowomychajliwka westlich von Donezk abgewehrt. Weitere 15 Angriffe seien bei der Stadt Awdijiwka im Norden von Donezk abgewehrt worden, hiess es.
Donezk ist mit knapp einer Million Einwohner Zentrum des ostukrainischen Kohle- und Stahlreviers Donbass und seit 2014 in der Hand russisch gesteuerter Kräfte. Die Front verlief seitdem dicht an der Stadt; die ukrainische Armee unterhält dort stark befestigte Stellungen. Deshalb hat sich die Frontlinie auch nach Beginn der grossangelegten russischen Invasion 2022 kaum verändert.
In den vergangenen Wochen hat die russische Armee ihre Angriffe im Raum Donezk verstärkt. Selbst wenn die Verluste an Soldaten und Fahrzeugen hoch sind, setzt die Zahl der Angreifer die ukrainischen Verteidiger unter Druck.
Selenskyj: Putin braucht Erfolg für seine Kandidatur
In seiner Videoansprache sagte Selenskyj, Kremlchef Putin verfolge mit den Gefechten bei Donezk zynisch ein politisches Ziel. «Er ist bereit, unbegrenzt viele seiner Leute zu töten, um in der ersten Dezemberhälfte wenigstens einen taktischen Erfolg vorweisen zu können. Nämlich dann, wenn er seine Wahlen ankündigen will.»
In diesen Kämpfen verliere Russland noch schneller Soldaten und Technik als bei der langen Schlacht um Bachmut im vergangenen Winter. «Diesem Druck standzuhalten, ist äusserst schwer», sagte Selenskyj und dankte seinen Soldaten. Je mehr russische Kräfte bei Awdijiwka vernichtet würden, desto schwieriger werde die Lage für den Feind.
In Russland finden im kommenden März Präsidentenwahlen statt, die vom Kreml bereits vorbereitet werden. Putin hat seine erneute Kandidatur noch nicht offiziell erklärt. Am Mittwoch will er sich nach Kreml-Angaben mit Vertretern der Zentralen Wahlkommission treffen.
Ukrainischer Brückenkopf am Dnipro wird ausgeweitet
Der Leiter des ukrainischen Präsidialamtes, Andrij Jermak, bestätigte einen Brückenkopf auf dem eigentlich russisch besetzten Südufer des Dnipro im Gebiet Cherson. «Gegen alle Widerstände haben die Streitkräfte der Ukraine am linken Ufer des Dnipro Fuss gefasst», sagte Jermak bei einer Rede in Washington. Ziel sei es auch hier, dichter an die von Russland annektierte Halbinsel Krim heranzukommen. «Wir haben 70 Prozent der Strecke zurückgelegt. Und unsere Gegenoffensive geht weiter», sagte er.
Nach Analysen westlicher Beobachter haben die Ukrainer in den vergangenen Tagen den Brückenkopf bei Krynki ausgeweitet und auch leichte Panzertechnik nach dort gebracht. Russische Militärblogger beklagen, dass russische Truppen dort unter Feuer gerieten und die Initiative bei den Ukrainern liege.
8000 ukrainische Soldaten in Deutschland ausgebildet
Die Bundeswehr und ihre Partner haben bislang etwa 8000 ukrainische Soldaten ausgebildet. «Meine Erwartung ist, dass wir bis Ende des Jahres ungefähr 10 000 ausgebildet haben werden in circa 200 Trainingsmodulen», sagte Generalleutnant Andreas Marlow, Befehlshaber des multinationalen Ausbildungskommandos («Special Training Command»). Es hat seinen Sitz in Strausberg bei Berlin und steuert die Arbeit der vor einem Jahr gestarteten EU-Trainingsmission (EUMAM) für die Ukraine.
Die Ausbildung umfasst verschiedene Ebenen von einer Grundausbildung über Spezialisierungen – wie Sanitäter, Scharfschützen oder Panzerbesatzungen – bis hin zur Ausbildung des militärischen Führungspersonals. Einige Akzente hätten sich geändert. Marlow nannte eine Verschiebung von defensiven hin zu offensiven Operationen.
Osteuropäer fordern mehr Einsatz für Munitionsplan für die Ukraine
Aus Osteuropa kommen Forderungen nach entschlossenen Rettungsversuchen für den vom Scheitern bedrohten EU-Munitionsplan für die Ukraine. Wenn aus den eigenen Lagern und über eigene neue Bestellungen bei der Industrie nicht ausreichend Munition organisiert werden könne, sollte man bereit sein, in Drittstaaten zu kaufen, sagte Estlands Verteidigungsminister Hanno Pevkur in einem Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. Dies sei eine der möglichen Lösungen.
Der estnische Politiker reagierte mit den Forderungen auf den schleppenden Fortschritt beim EU-Plan für die Lieferung von einer Million Artilleriegeschosse an die Ukraine bis zum Frühjahr 2024. Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius hatte deswegen am Dienstag am Rande von EU-Beratungen erklärt, dass er ein Scheitern erwarte. Ähnlich wie Pevkur hatte sich bereits vor den EU-Beratungen der lettische Verteidigungsminister Andris Spruds geäussert. (awp/mc/pg)