Boxweltmeister Vitali Klitschko.
Kiew – Die Fronten in der krisengeschüttelten Ukraine sind nach dem Sturz des Lenin-Denkmals in Kiew verhärteter denn je. Auf der einen Seite die prorussische Führung um Präsident Viktor Janukowitsch, auf der anderen die europäischen Kräfte um Boxweltmeister Vitali Klitschko. Die Opposition rüstet sich in Kiew mit Barrikaden aus Mülltonnen und Fahrzeugen – als Bollwerk gegen die starken Uniformierten der Sonderheit Berkut (Steinadler). Jeden Moment könnte die Staatsmacht in der Millionenstadt zuschlagen, um die seit Wochen dauernden prowestlichen Proteste niederzuschlagen.
Die Anspannung auf beiden Seiten der verfeindeten Lager ist am Montag fast mit den Händen greifbar. «Die Sperrungen bleiben, bis unsere Forderung nach Neuwahlen erfüllt ist», sagt Klitschko. Immer wieder schwellten die Proteste an den vergangenen drei Sonntagen bis zu Hunderttausenden Teilnehmern an. Viele Ukrainer wollen ausharren, weil sie unter Janukowitschs Politik keine Zukunft sehen. Sie fürchten ein Klein-Russland unter Herrschaft eines autoritären Kremlchefs Wladimir Putin. Sie streben deshalb lieber eine EU-Partnerschaft an.
Moskau: Kampf Ost gegen West
Während sich der Westen – allen voran die EU und die USA – um eine Lösung in der Krise bemühen, Emissäre nach Kiew schicken, ätzen russische Staatsmedien gegen diesen Druck auf die Ex-Sowjetrepublik. Von einem Kampf zwischen dem Westen – der EU – und dem Osten – Russland – ist auch an höchster Stelle in Moskau die Rede. Auch der ukrainische Regierungschef Nikolai Asarow meint – ganz auf russischer Linie -, dass die Massenproteste vom Westen finanziert seien. Es ist nicht die einzige unbewiesene Behauptung.
Verschwörung zur «Homosexualisierung der Ukraine»
Der als «antiwestlicher Scharfmacher» verschriene russische Staatsreporter Dmitri Kisseljow will auf dem Maidan – dem Platz der Unabhängigkeit – in Kiew sogar eine grosse Verschwörung zur «Homosexualisierung der Ukraine» ausgemacht haben. Sein Argument: Bundesaussenminister Guido Westerwelle sei dort mit Klitschko marschiert. Als Janukowitsch sich entschied, den weitreichenden Assoziierungsvertrag mit der EU nicht zu unterzeichnen, jubelten orthodoxe Christen in der Ukraine und in Russland, dass damit auch «westliche Verderbtheit» abgewendet sei.
«Beste Politik für Russland, sich da nun rauszuhalten»
Doch diejenigen, die in der Ukraine auf die Strasse gehen, sehnen sich nach einem anderen Leben mit besseren sozialen Verhältnissen, mit weniger Korruption, mit mehr Rechtsstaatlichkeit und Chancengleichheit. Das zerrüttete Land steht in diesen Tagen an einem schicksalhaften Wendepunkt, ist vielfach zu hören in Kiew. «Es ist die beste Politik für Russland, sich da nun rauszuhalten», mahnt der Politologe Dmitri Trenin vom Moskauer Carnegie Zentrum.
Machtpoker
Im Moment scheinen weder Janukowitschs Machtapparat noch die Kräfte um Klitschko und die inhaftierte Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko einen Plan für die Zukunft zu haben. Klitschko und Timoschenko wollen einen Machtwechsel erreichen. Janukowitsch, davon gehen Experten aus, klammert sich mit allen Mitteln an die Macht. Dass die Lage eskaliert und es zu blutigen Zusammenstössen kommt, will offenbar niemand in Kiew – auch nicht die Oligarchen, die allem Anschein nach ebenfalls unschlüssig sind, auf welche Seite sie setzen sollen.
Letztes Wort beim Volk?
Die Lage ist verfahren. Janukowitsch will am Dienstag auf Vorschlag seiner Amtsvorgänger Leonid Krawtschuk, Leonid Kutschma und Viktor Juschtschenko bei einem Treffen nach einem Ausweg suchen. Vor der völlig verarmten Ukraine steht vor allem die Aufgabe, Milliarden zu finden, um den fast ständig drohenden Staatsbankrott abzuwenden. Das Geld könnte aus Russland oder dem Westen kommen. Doch scheint die Bereitschaft gering, ausgerechnet mit der aktuellen Führung in Kiew zu verhandeln. Auch deshalb fordern die Oppositionsführer wie Timoschenko und Klitschko Neuwahlen, damit das Volk entscheidet, wem es am ehesten einen Ausweg aus dem Chaos zutraut. (awp/mc/ps)