Von der Leyen hat es geschafft
Strassburg – Ursula von der Leyen wird die neue Präsidentin der EU-Kommission. Die CDU-Politikerin wurde am Dienstagabend im Europaparlament mit einem äusserst knappen Ergebnis in das Amt gewählt: Sie erhielt 383 Stimmen – die nötige absolute Mehrheit lag bei 374, wie Parlamentspräsident David Sassoli mitteilte. Die 60-Jährige kann damit am 1. November die Nachfolge des Luxemburgers Jean-Claude Juncker antreten – als erste Frau in dieser Position. Erstmals seit 60 Jahren erobert jemand aus Deutschland das Amt.
Von der Leyen bedankte sich in einer ersten Reaktion für das Vertrauen. «Ich fühle mich so geehrt», sagte die scheidende Bundesverteidigungsministerin. Sie bot dem Parlament eine enge Zusammenarbeit an. Vizekanzler Olaf Scholz und Aussenminister Heiko Maas (beide SPD) gratulierten von der Leyen direkt nach der Verkündung des Ergebnisses – und das, obwohl die deutschen Sozialdemokraten im EU-Parlament gegen die CDU-Frau stimmen wollten.
Chefin von mehr als 30’000 Mitarbeitern
Als Kommissionspräsident kann von der Leyen in den nächsten fünf Jahren politische Linien und Prioritäten mitbestimmen. Sie wird Chefin von mehr als 30’000 Mitarbeitern in der Kommission. Diese ist dafür zuständig, Gesetzesvorschläge zu machen und die Einhaltung von EU-Recht zu überwachen. Sie bestimmt damit auch den Alltag der gut 500 Millionen Europäer mit.
Kramp-Karrenbauer wird neue Verteidigungsministerin
In Berlin hat Bundeskanzlerin Angela Merkel sehr schnell über von der Leyens Nachfolge als Verteidigungsministerin entscheiden: CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer übernimmt das Amt. Das bestätigte der stellvertretende CDU-Vorsitzende Thomas Strobl am Dienstagabend der Deutschen Presse-Agentur.
Der Wechsel kommt überraschend, weil es immer geheissen hatte, Kramp-Karrenbauer (56) wolle nicht ins Kabinett von Kanzlerin Angela Merkel gehen, sondern sich auf die Aufgabe als CDU-Chefin konzentrieren. In Präsidiumskreisen wurde von einem starken Signal von Kramp-Karrenbauer gesprochen. Auch in dieser Runde sei die Entscheidung für viele völlig überraschend gekommen, hiess es.
Keine Spitzenkandidatin
Vor der Abstimmung im Strassburger Europaparlament hatte es sehr viel Unmut gegeben, weil von der Leyen keine Spitzenkandidatin zur Europawahl war. Die EU-Staats- und Regierungschefs hatten die Spitzenkandidaten Manfred Weber von der Europäischen Volkspartei und Frans Timmermans von den Sozialdemokraten übergangen und stattdessen von der Leyen als Überraschungskandidatin präsentiert.
Die SPD-Europaabgeordneten, die Grünen und die Linken hatten deshalb – und auch wegen inhaltlicher Differenzen – ein Nein angekündigt.
Doch signalisierten die EVP, die Liberalen und die Mehrheit der Sozialdemokraten bereits vor der geheimen Abstimmung Unterstützung. Die rechtsnationale EKR, die von der Leyen ursprünglich ebenfalls Stimmen in Aussicht gestellt hatten, konnte sich letztlich nicht einigen und gab die Abstimmung frei; auch von dort könnten einige Stimmen gekommen sein.
Einheit und Zusammenhalt
In ihrer Rede am Vormittag hatte von der Leyen Einheit und Zusammenhalt beschworen, damit Europa sich in der Welt behaupten könne. Und sie wiederholte eine ganze Reihe von Zusagen, die sie bereits in den vergangenen Tagen an die Abgeordneten gemacht hatte, und unterfütterte sie mit Details.
Sie bekräftigte ihr Versprechen eines klimaneutralen Europas bis 2050 und einer Senkung der Treibhausgasemission bis um 55 Prozent bis 2030. «Unsere drängendste Aufgabe ist es, unseren Planeten gesund zu halten», sagte von der Leyen. Sie betonte, sie werde sich für vollständige Gleichberechtigung von Männern und Frauen einsetzen.
Grosse Internetkonzerne sollen nach ihrem Willen in Europa stärker besteuert werden. «Es ist nicht akzeptabel, dass sie Profite machen und keine Steuern zahlen», sagte sie. Die Einführung einer Digitalsteuer in Europa war unter der Kommission von Jean-Claude Juncker am Widerstand einiger Staaten gescheitert. Sie sagte zudem vollen Einsatz der Kommission für die Rechtsstaatlichkeit zu – mit allen Instrumenten und mit einem neuen Rechtsstaatsmechanismus.
Weitere Brexit-Verschiebung nicht ausgeschlossen
Sie schloss auch eine weitere Verschiebung des Brexits nicht aus – was Protestrufe der Brexit-Partei im Parlament auslöste. Eine Verlängerung der Austrittsfrist für Grossbritannien wäre möglich, wenn es gute Gründe gäbe, sagte sie. Die Frist läuft derzeit bis 31. Oktober.
Ihre politischen Leitlinien legte von der Leyen in einem mehr als 20-seitigen Dokument dar, das am Dienstag zur Parlamentsabstimmung veröffentlicht wurde. Es trägt die Überschrift «Eine Union, die mehr erreichen will – Meine Agenda für Europa». Arbeitsschwerpunkte darin sind unter anderem der Klimaschutz, die Wirtschafts- und Migrationspolitik sowie die Rolle der EU in der Welt. «Ich sehe die kommenden fünf Jahre als Chance für Europa – um zu Hause über sich hinauszuwachsen und damit eine Führungsrolle in der Welt zu übernehmen», schreibt von der Leyen darin.
In der Debatte hatte es einigen Zuspruch für von der Leyen, aber auch drastische Kritik gegeben. Bis zuletzt war nicht ganz sicher, ob die Mehrheit zustande kommen würde. Die 16 SPD-Europaabgeordneten wollten auch nach der Rede bei ihrem Nein bleien. Ein Schreiben der CDU-Politikerin an die Fraktion habe zwar viele Forderungen der Sozialdemokraten aufgenommen, sagte der deutsche Gruppenchef der Sozialdemokraten, Jens Geier. Die Ankündigungen würden aber mit Skepsis gesehen. Letztlich signalisierten vor der Abstimmung aber etwa 100 der 153 Abgeordneten Zustimmung, also rund zwei Drittel. (awp/mc/ps)