Istanbul – Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan muss in die Stichwahl. Erdogan verfehlte in der ersten Runde der Präsidentenwahl die absolute Mehrheit, wie die Wahlbehörde am Montag in Ankara mitteilte. Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu lag nach dem vorläufigen Endergebnis knapp hinter ihm, womit keiner der beiden Bewerber mehr als 50 Prozent der Stimmen erhielt und es am 28. Mai eine Stichwahl geben wird.
Nach Angaben der Wahlbehörde entfielen auf Erdogan 49,51 Prozent der Stimmen, Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu kam auf 44,88 Prozent. Auf dem weit abgeschlagen dritten Platz landete Sinan Ogan (5,17 Prozent) von der ultranationalistischen Ata-Allianz. Das Ergebnis für die gleichzeitig abgehaltene Parlamentswahl lag zunächst nicht vor. Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu meldete, laut Wahlbehörde habe die Wahlbeteiligung im Inland bei vorläufig 88,92 Prozent und im Ausland bei 52,69 gelegen.
Entscheidend in der Stichwahl könnte sein, wie sich die Wählerschaft des Drittplatzierten Sinan Ogan von der ultranationalistischen Ata-Allianz verhält. Bislang ist offen, ob Ogan eine Wahlempfehlung abgibt, wie diese ausfallen würde und ob seine gespaltene Anhängerschaft ihr folgen würde. Es ist nicht ausgemacht, dass Erdogan profitieren würde.
Aussenseiter kommt wichtige Rolle zu
Angesichts des Wahl-Krimis zwischen Erdogan und Kilicdaroglu wertete der Drittplatzierte Ogan sein schwaches Abschneiden (rund 5,2 Prozent) als Erfolg. Mit seinem Lager wollte er nun über das weitere Vorgehen beraten. «Wir werden niemals zulassen, dass die Türkei in eine Krise gerät», sagte Ogan in der Nacht zu Montag.
Erdogans Regierungsallianz liegt bei Parlamentswahl vorn
Die Wahlbehörde gab das Ergebnis der Parlamentswahl zunächst nicht bekannt. Es zeichnete sich jedoch ab, dass Erdogans Regierungsallianz ihre Mehrheit verteidigen konnte. Der Präsident hat seit der Einführung eines Präsidialsystems 2018 weitreichende Befugnisse, das Parlament mit seinen 600 Abgeordneten ist dagegen geschwächt.
Wahl wichtig für Zukunft des Landes
Die Wahl galt als richtungsweisend. Es wird befürchtet, dass das Nato-Land weitere fünf Jahre unter Erdogan noch autokratischer werden könnte. Kilicdaroglu trat als Kandidat für ein breites Bündnis aus sechs Parteien an. Er verspricht die Rückkehr zu einem parlamentarischen System, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Auch international wurden die Entwicklungen in der Türkei aufmerksam beobachtet wegen ihrer Bedeutung für Konflikte in der Region wie dem Syrien-Krieg und für das Verhältnis zur EU und Deutschland.
Nervenkrieg um Zahlen
Schon zu Beginn der Abstimmung gab es Zweifel an den von der Staatsagentur Anadolu veröffentlichten Zahlen. Die oppositionellen Bürgermeister der Metropolen Istanbul und Ankara beschuldigten die Regierung, die Werte von Erdogan zu schönen. Kilicdaroglu warf Erdogans Partei AKP vor, die Auszählung in Hochburgen der Opposition mit Einsprüchen zu blockieren. Erdogan warf der Opposition wiederum «Raub des nationalen Willens» vor.
Erdogan angezählt – Opposition kämpferisch
Auch wenn Erdogan in zwei Wochen noch immer gewinnen kann – für den 69-Jährigen ist das Ergebnis ein Rückschlag. Seit er 2003 zunächst zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, hat er jede landesweite Wahl gewonnen. Seit 2014 ist er Staatspräsident. Die Aura des Unbesiegbaren geht ihm durch die Stichwahl verloren. Erdogan zeigte sich in der Nacht zu Montag dennoch gut gelaunt vor jubelnden Anhängern in Ankara und stimmte ein Lied an.
Der 74-jährige Kilicdaroglu trat in der Nacht gemeinsam mit den Parteichefs seines Sechser-Bündnisses vor die Presse. «Erdogan hat trotz seiner Diffamierungen und Beleidigungen nicht das Ergebnis erreicht, das er sich erwartet hatte», sagte er.
Neue Situation für alle Beteiligten
Alle Seiten sehen sich nun mit einer vollkommen neuen Situation konfrontiert – eine Stichwahl gab es noch nie. Der Präsident wird erst seit 2014 direkt vom Volk gewählt.
Parlament könnte ausschlaggebend sein
Alle Augen schauen nun auf die Grosse Nationalversammlung in Ankara. Erdogans islamisch-konservative AKP und ihr ultranationalistischer Partner MHP werden dort ihre absolute Mehrheit voraussichtlich halten können. Sollte Kilicdaroglu bei einer Stichwahl gewinnen, könnten sich Parlament und Präsident theoretisch blockieren, was zu einer Regierungskrise führen könnte. Erdogan scheint dieses Szenario schon für den Wahlkampf in den zwei Wochen vor der Stichwahl nutzen zu wollen. Er sei sich sicher, dass die Wähler in einer Stichwahl «Sicherheit und Stabilität» bevorzugten, sagte er in der Nacht.
Zwar kann der Präsident ohne Zustimmung des Parlaments ein Dekret erlassen, verabschiedet das Parlament aber ein Gesetz zum selben Thema, würde das Dekret ungültig. Es kommen in jedem Fall schwierige zwei Wochen auf die Türkei zu. Die Landeswährung Lira könnte durch die unsichere Situation weiter an Wert verlieren.
Abstimmung verlief ruhig – Wahlkampf unfair
Der Wahlkampf stand auch im Zeichen des verheerenden Erdbebens vom 6. Februar in der Südosttürkei. Wie hoch die Wahlbeteiligung in den betroffenen Regionen war, wird sich am Ende der Auszählung zeigen. Die Wahl lief nach einer ersten Einschätzung der zuständigen Behörde ohne Probleme ab. Oppositionspolitiker meldeten kleinere Zwischenfälle aus verschiedene Provinzen.
Der Wahlkampf galt als unfair, auch wegen der medialen Übermacht der Regierung. Erdogan hatte die Opposition scharf attackiert und seinen Gegner etwa als «Säufer» und «Terroristen» bezeichnet. Die Opposition hielt mit einer positiven Kampagne dagegen. Auch vor der Stichwahl wird Erdogan auf die meisten Medien und die Regierungsmehrheit im Parlament bauen können.
Womit werben Erdogan und Kilicdaroglu um Wählerstimmen?
Erdogan wirbt vor allem mit Wahlgeschenken, wie der Erhöhung von Beamtengehältern und Grossprojekten in Infrastruktur und Rüstungsindustrie. Kilicdaroglu verspricht, Korruption und Inflation zu bekämpfen und das Land zu demokratisieren. In der Migrationsfrage schlägt er einen nationalistischen Ton an. Die rund 3,5 Millionen Flüchtlinge aus Syrien will er zurückschicken und das Flüchtlingsabkommen mit der EU neu verhandeln.
Insgesamt waren rund 64 Millionen Menschen zur Stimmabgabe aufgerufen, davon rund 3,4 Millionen im Ausland. (awp/mc/ps)