von Patrick Gunti
Moneycab.com: Frau Garwacki, Bellevue Executive Search ist auf das Rekrutieren von Finanzchefinnen und Finanzchefs spezialisiert. Die Bandbreite an C-Level-Positionen ist mittlerweile sehr umfassend. Gibt es «goldene Regeln», wie man die optimale Kandidatin resp. den optimalen Kandidaten im Finanzbereich findet?
Claire Garwacki: Ich möchte drei Punkte erwähnen:
● «Ducks fly with ducks»: Erkennen Sie die Wichtigkeit persönlicher Empfehlungen und persönlicher Interaktion. Wir ziehen es vor, Kandidatinnen und Kandidaten über Empfehlungen kennenzulernen, und bei jeder Begegnung stelle ich wiederum die Frage: «Wer war Ihr bester CFO und warum?»
● Berücksichtigen Sie auch introvertierte Bewerberinnen und Bewerber oder solche, die sich im Vorstellungsgespräch weniger wohl fühlen könnten. Wir bewerten sie grosszügiger, um dem bekannten Halo-Effekt entgegenzuwirken. Dieser Effekt neigt dazu, selbstbewussten Personen automatisch mehr Glaubwürdigkeit zuzuschreiben. Neurowissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass unauffällige Profile oft hervorragende Leistungen bringen, sobald sie im Unternehmen sind.
● Interagieren Sie in den Tagen nach dem Vorstellungsgespräch mehrmals mit Ihrer Bewerberin bzw. Ihrem Bewerber, z. B. indem Sie E-Mails austauschen oder telefonisch nachbesprechen. Das ist immer lehrreich, da sich die Leute beim zweiten Gespräch viel mehr öffnen. Während des Vorstellungsgesprächs lernen wir unser Gegenüber aus einem ersten Blickwinkel kennen. Beobachten Sie dann die E-Mails, die Antwortzeiten, den Tonfall am Telefon: Sie werden überrascht sein, was Sie alles herausfinden: Ist sie/er motiviert? gestresst? organisiert? proaktiv? Spontan?
Welche Top-Fähigkeiten sind gefragt und wie hat sich aus Ihrer Erfahrung die Rolle des CFOs in den letzten Jahren verändert?
Das ist eine gute Frage, denn man kann an der Entwicklung der Profile der CFOs die Sorgen unserer Gesellschaft ablesen. In den 2000er Jahren lag der Fokus der CFOs hauptsächlich auf der Buchhaltung und Finanzberichterstattung. In den Jahren 2010-2015, besonders nach dem Enron-Skandal, verschob sich der Schwerpunkt hin zu Audit/Process/Control und mehr rechtlicher Verantwortung. Zwischen 2015 und 2019 gab es einen starken Anstieg der CFOs als «cost controllers». Dies ist ein Trend, den ich auf die Stärkung des Schweizer Frankens und die Exportschwierigkeiten zurückführe.
2021 wachte die Schweiz nach der Pandemie auf und stellte fest, dass sie auf den 26. Platz in der weltweiten Rangliste der Gleichberechtigung von Männern und Frauen in Unternehmen abgerutscht war. Von einem Tag auf den anderen suchten alle nach weiblichen CFOs. Seit 2022/2023 wird von CFOs vermehrt erwartet, dass sie die finanzielle Transformation vorantreiben und sich auf die ESG-Werte konzentrieren. 2024 kehren wir zu einer stärkeren Prozess- und Compliance-Kultur zurück, jedoch mit einem starken Fokus auf IT und Automatisierung. Der oder die moderne CFO wird heute als Schlüsselfigur gesehen, die Unternehmen durch digitale Modernisierung führt.
Wie sieht die Zukunft aus? Alle reden von künstlicher Intelligenz. Ich persönlich glaube aber, dass die wahren Herausforderungen im HR-Bereich liegen. CFOs entwickeln sich zu «Supermanagern von Teams». Der Fokus liegt auf Soft Skills und Managementkompetenzen.
«Alle reden von künstlicher Intelligenz. Ich persönlich glaube aber, dass die wahren Herausforderungen im HR-Bereich liegen.»
Claire Garwacki, Gründerin und Managing Partner Bellevue Executive Search
Für welche Art von Unternehmen und welche Branchen suchen Sie Finanzfachleute?
Eigentlich decken wir alle Unternehmen ab, mit Ausnahme von «Finanzdienstleistungen» (Banken und Versicherungen), die eine ganz andere Welt sind. Wir suchen für alle Grössen, vom Startup bis zum multinationalen Unternehmen und in allen Branchen, Uhrenindustrie, Luxusgüter, Maschinenbau, Dienstleistungen, Lifesciences, medizinische Geräte, Medien usw.
In Ihrer Tätigkeit ist die Fähigkeit des Einordnens von Eindrücken, Aussagen oder Aussehen besonders wichtig. Welcher Strategie folgen Sie?
Meiner Meinung nach braucht man eine Struktur und einen Prozess, sonst wird nach Gefühl eingestellt, was für die Bewerberinnen und Bewerber unfair ist. Man muss 1) für jede Bewerberin und jeden Bewerber die gleiche Liste von Fragen haben (halbstrukturiertes Interview), 2) einem Vier-Augen-Prinzip folgen – bei uns wird jede Bewerberin und jeder Bewerber von meinem Partner und mir getrennt gesehen, 3) Referenzen einholen, 4) sich vor jedem Interview mental vorbereiten, um sich seiner Voreingenommenheit bewusst zu werden und bereit zu sein, sie zu korrigieren.
Und schliesslich: Transparenz und Bescheidenheit. Manchmal weiss man nicht, wie man eine Kandidatin oder einen Kandidaten einordnen soll – und das ist in Ordnung! Zuletzt hatte ich echte Zweifel an einem CFO-Profil. Meine Strategie: Der Kundin bzw. dem Kunden transparent erklären, dass man diese Zweifel hat. In der Regel geben wir dem Profil in solchen Fällen eine Chance.
Und inwieweit können Sie sich auch auf Ihre Intuition verlassen?
Das Verlassen auf die eigene Intuition birgt Gefahren. Wenn eine Bewerberin oder ein Bewerber mein Büro betritt und sich ein erster Eindruck abzeichnet, ist die eigentliche Frage: Spricht da meine Intuition oder habe ich Vorurteile?
Die Grenze zwischen Intuition und Vorurteilen ist fliessend: Intuition ist das Ergebnis eines logischen Denkprozesses, der so oft wiederholt wird, dass er automatisch abläuft. Der unbewusste Bias ist nicht logisch und tendiert immer in die gleiche Richtung. Zum Beispiel wird eine schüchterne, übergewichtige oder ältere Person immer benachteiligt. Mit über 2000 geführten Vorstellungsgesprächen habe ich gelernt, meine Intuition wahrzunehmen, sie aber während des Gesprächs bewusst zur Seite zu legen. Ich strebe danach, so offen und neutral wie möglich zu sein, um eine faire Bewertung der Fähigkeiten und des Potenzials zu gewährleisten.
«Vorurteile spielen eine bedeutende Rolle in der Entscheidungsfindung, und es ist unerlässlich, sich ihrer bewusst zu sein und aktiv gegen sie vorzugehen.»
Welche Rolle spielen Vorurteile? Man sagt zwar, sie seien unvermeidlich – was aber, wenn Sie zu Diskriminierung führen?
Vorurteile spielen eine bedeutende Rolle in der Entscheidungsfindung, und es ist unerlässlich, sich ihrer bewusst zu sein und aktiv gegen sie vorzugehen. Zu sagen, dass Vorurteile unvermeidlich sind, bedeutet, intellektuelle Faulheit als Entschuldigung zu tolerieren.
Friedrich Nietzsche drückt es treffend aus: «Überzeugungen sind gefährlichere Feinde der Wahrheit als Lügen.» Wenn Sie beispielsweise denken: «Dieser Kandidat hat einen Migrationshintergrund, also ist er wahrscheinlich nicht ehrlich zu mir», ist das keineswegs unbewusst. Und Sie haben dann die Pflicht, sich selbst zu hinterfragen. Ich bin in diesem Punkt sehr entschieden. Denn Vorurteile können zu Diskriminierung führen und verhindern, dass talentierte Personen eine faire Chance erhalten. Unsere Gesellschaft kann sich so nicht weiterentwickeln. Es ist wichtig, offen zu sein und sich die Möglichkeit zu geben, positiv überrascht zu werden. Nur so können wir eine vielfältige und inklusive Arbeitsumgebung schaffen, die das Potenzial aller Mitarbeitenden fördert.
Ein grosses Thema sind für Sie unbewusste Vorurteile, die sogenannten «unconscious bias». Welches sind die häufigsten unbewussten Vorurteile in der Arbeitswelt?
Die gute Nachricht bei unbewussten Biases ist, dass sie konstant sind. Das heisst, dass Personen von unbewussten Voreingenommenheiten immer in die gleiche Richtung beeinflusst werden – und so korrigiert werden können. Beispielsweise trauen wir einem weissen Mann über 40 immer mehr Glaubwürdigkeit zu. Das ist so – bei Männern und bei Frauen.
Die am weitesten verbreitete unbewusste Verzerrung ist der Halo-Effekt oder der Effekt des Übervertrauens. Wir haben mehr Respekt vor jemandem, der «Charisma» (auf Englisch: bravado) zeigt. Dies geschieht jedoch sehr oft zu Unrecht. Es ist diese Verzerrung, die es bestimmten dominanten Persönlichkeiten ermöglicht, die Karriereleiter im Unternehmen hinaufzuklettern, selbst wenn die Leistung dies nicht rechtfertigt. Der Halo-Effekt erklärt auch, warum unsere Führungskräfte in der Mehrzahl sehr durchsetzungsstarke Profile sind. Hüten Sie sich vor dem Halo-Effekt!
Die zweithäufigste Verzerrung ist die Affinitätsverzerrung: Ohne uns dessen bewusst zu sein, bevorzugen wir Menschen, die uns ähnlich sind. So finden wir in der Arbeitswelt Teams, in denen plötzlich viele Frauen, viele Italiener oder überwiegend junge Menschen arbeiten.
«Die am weitesten verbreitete unbewusste Verzerrung ist der Halo-Effekt oder der Effekt des Übervertrauens.»
Welchen Einfluss können sie auf Beurteilung der Kompetenz von potenziellen Kandidat:innen und Mitarbeitenden haben?
Wenn Sie nicht für unbewusste Verzerrungen sensibilisiert oder auf das Beurteilungsgespräch vorbereitet sind, werden Sie diejenigen einstellen und befördern, die Ihnen ähnlich sind, oder diejenigen, die Sie beeindrucken. Mit wenigen Ausnahmen tappen wir alle in diese beiden Fallen.
Interessanterweise ist das nicht immer eine schlechte Sache! Sobald Sie die erste Person mit Diversitätshintergrund einstellen, könnte diese ebenfalls dazu neigen, weitere Personen mit Diversitätshintergrund einzustellen, die ihr ähneln. Ironisch, nicht wahr? Die unbewusste Voreingenommenheit kann also gegen die Vielfalt, aber für die Vielfalt arbeiten.
Sie setzen sich aktiv für Chancengleichheit, Fairness und Vielfalt am Arbeitsplatz ein. Sind hier unbewusste Vorurteile oder bewusste, die zu Mobbing, Rassismus oder Diskriminierung die grössere Barriere?
Ich gebe hier meine persönliche Meinung wieder, die auf meinen Beobachtungen beruht. Die grösste Barriere sind nicht unsere Vorurteile. Die grösste Hürde liegt darin, dass oft nicht angemessen auf Mobbing, Rassismus oder Diskriminierung reagiert wird, die im Alltag vorkommen. Über zehn Jahre hinweg habe ich gesehen, dass das Schweigen und die Passivität gegenüber solchen Vorfällen die eigentlichen Barrieren zur Gleichberechtigung darstellen.
Wir alle haben individuelle Vorurteile und es ist unmöglich, vollkommen frei davon zu sein. Aber zu schweigen, wenn ein Manager oder eine Kollegin die Grenzen überschreitet, verstärkt diese Probleme und behindert die Schaffung eines inklusiven Arbeitsumfelds. Opfer von Mobbing berichten oft, dass die fehlende Unterstützung durch die Organisation genauso schmerzhaft ist wie das Mobbing selbst.
«Die grösste Hürde liegt darin, dass oft nicht angemessen auf Mobbing, Rassismus oder Diskriminierung reagiert wird, die im Alltag vorkommen.»
Warum diese fehlende Reaktion? Warum dieses Schweigen?
Ich beobachte, dass in Unternehmen der Druck immens und das Arbeitstempo extrem schnell sind. In einer solchen Umgebung ist es oft eine Herausforderung, den eigenen Tag zu bewältigen. Einen Schritt zurückzutreten ist unmöglich. Das öffnet die Tür für Ausrutscher und Missbrauch.
Welche möglichen Folgen haben «unconscious bias» für die Betroffenen und die Unternehmen?
Biologisch bedingt neigen unsere unbewussten Voreingenommenheiten dazu, das zu reproduzieren, was für unser Gehirn als normal gilt. So haben wir z. B. alle verinnerlicht, dass «der Chef ein Mann ist».
Wenn wir unsere unbewussten Vorurteile nicht kontrollieren, können die Konsequenzen deutlich sein: Weniger Innovation und geringere Leistung im Unternehmen. Mehrere Studien von Beratungsfirmen wie McKinsey und Deloitte haben gezeigt, dass Unternehmen, die gegen ihre unbewussten Verzerrungen ankämpfen, eine höhere finanzielle Leistung und Innovationskraft aufweisen als ihre Mitbewerber.
Unbewusste Vorurteile sind tief verwurzelte Denkmuster. Wie wird man sich diesen bewusst?
Ein wirksamer Ansatz ist es, sich aktiv mit dem Thema auseinanderzusetzen und auf Tests und Schulungen zurückzugreifen, die speziell dafür entwickelt wurden. Die Harvard-Universität bietet beispielsweise einen kostenlosen Online-Test an, der die unbewussten Vorurteile in Bezug auf Alter, Hautfarbe oder Geschlecht misst. Viele Schulungen und Programme basieren auf Erkenntnissen aus der Harvard-Studie und helfen dabei, bewusster mit unbewussten Vorurteilen umzugehen. Persönlich habe ich durch solche Tests und Schulungen entdeckt, dass ich selbst sehr stark voreingenommen bin… gegen Frauen! Es ist wichtig zu betonen, dass diese Erkenntnisse oft nichts mit unserer bewussten Meinung zu tun haben, sondern tiefer verwurzelte Denkmuster widerspiegeln.
Sie haben sich dem Thema im Frühling auf humorvolle Art im Rahmen der Videoserie «In Her Chair» angenähert, wo Sie zehn männliche Chefs von Schweizer Unternehmen mit Fragen konfrontiert haben, die sonst Frauen bei der Arbeit zu hören bekommen. Wie blicken Sie auf diese Produktion zurück?
Mit 1 Million Aufrufen hat das Video deutlich gemacht, dass bestimmte Fragen und Situationen, die Frauen am Arbeitsplatz erleben, ein weit verbreitetes gesellschaftliches Phänomen sind, selbst in der Schweiz. Viele Männer haben mir gesagt, dass sie das Video zum Nachdenken gebracht hat. Es ist eine schöne Belohnung zu sehen, wie Menschen das Video sogar unterwegs in der Tram oder im Zug anschauen.
Das Filmset war eine inspirierende Erfahrung, dank unseres grossartigen Teams und der zehn CEOs, die mit viel Humor und Offenheit an dem Projekt mitgewirkt haben. Wir konnten oft über die Absurdität der gestellten Fragen lachen.
Meine Schlussfolgerung aus dieser Erfahrung ist: Humor kann helfen, gesellschaftliche Barrieren abzubauen und Menschen zum Nachdenken anzuregen. Indem wir über uns selbst lachen können, schaffen wir eine positive Atmosphäre für Veränderung und mehr Bewusstsein für Geschlechterstereotype am Arbeitsplatz.