Cyrill Gyger, CEO QUMEA, im Interview

Cyrill Gyger

Cyrill Gyger, CEO QUMEA. (Foto: zvg)

von Patrick Gunti

Moneycab.com: Herr Gyger, Stürze von älteren Menschen in Pflegeeinrichtungen wie Alters- und Pflegeheimen oder Spitälern sind leider keine Seltenheit. Wie gross ist das Problem?

Cyrill Gyger: Stürze in Pflegeeinrichtungen und Spitälern sind tatsächlich ein ernstzunehmendes Problem, und es beschränkt sich nicht auf ältere Personen. Gerade im Akutumfeld ist beispielsweise ein Delirium, sprich ein akuter Verwirrtheitszustand, ein Hauptgrund für Stürze. Und ein Delirium, insbesondere als Folge einer Operation, kann auch jüngere Patienten treffen.

Unser Produkt fokussiert auf den Akutbereich, sprich Spitäler, psychiatrische Einrichtungen und Rehazentren. Hier sind mir die Zahlen bekannt und sie sind immens: So ereignen sich im OECD-Raum jedes Jahr 10 Millionen Stürze an Spitälern. Stürze in Pflegeheimen sind hier noch nicht einmal eingerechnet.

QUMEA hat ein Präventionssystem entwickelt, mit dem diese Zahlen massiv reduziert werden können. Wie funktioniert dieses System?

Das Frühwarnsystem von QUMEA basiert auf moderner Radartechnologie, wie sie etwa auch bei selbstfahrenden Fahrzeugen zum Einsatz kommt. Mittels künstlicher Intelligenz werten wir die Radarsignale aus. Unser System erfasst dabei kontinuierlich die Bewegungen und Aktivitäten im Patientenzimmer. Es identifiziert ungewöhnliche Bewegungsmuster oder potenziell riskante Situationen, die auf eine Sturzgefahr hinweisen. Wenn das System eine solche Situation erkennt, wird eine Benachrichtigung oder ein Alarm ausgelöst und das Pflegepersonal kann umgehend eingreifen. Dies ermöglicht eine schnelle Reaktion und trägt dazu bei, Stürze zu verhindern. Und dank Verzicht auf Kamera und Mikrofon arbeitet das System vollständig anonym.

«Das Frühwarnsystem identifiziert ungewöhnliche Bewegungsmuster oder potenziell riskante Situationen, die auf eine Sturzgefahr hinweisen.»
Cyrill Gyger, CEO QUMEA

Welche Situationen erkennt das System und meldet es dem Pflegepersonal?

Betreffend Sturzprävention erkennt das QUMEA-System verschiedene Situationen, die für sturzgefährdete Patienten potenziell riskant sind. Die Pflege legt dabei fest, welche Situationen sie als relevant erachtet, immer auf den individuellen Patienten bezogen. So kann etwa das Aufwachen, eine akute Unruhe oder das Aufrichten oder Verlassen des Betts erkannt werden. Auch abseits des Betts können gefährdende Ereignisse detektiert werden, etwa ein Aufstehversuch aus einem Rollstuhl. Schliesslich erkennen wir auch alle Arten von Stürzen, und zwar im ganzen Raum, nicht nur rund ums Bett. Obschon es solche Stürze zu verhindern gilt, können sie nie vollständig abgewendet werden. Umso wichtiger ist die schnelle Hilfeleistung durch die Pflege im Falle eines Sturzes.

Neben der Sturzprävention unterstützt QUMEA aber auch bei der Dekubitusprophylaxe, also dem Verhindern eines Wundliegens – ein ebenfalls grosses Problem der Patientensicherheit.

Das Radar erfasst unglaubliche 100 Millionen Bewegungspunkte pro Sekunde. Welche Rolle spielt die künstliche Intelligenz bei der Erhebung der Bewegungen?

Radardaten sind für das menschliche Auge nicht intuitiv verständlich. Während Menschen auf Kamerabildern schnell relevante Informationen erkennen können, sind Radardaten ohne spezialisierte Analysewerkzeuge nahezu unverständlich. Die KI überbrückt diese Lücke, indem sie Muster und Ereignisse erkennt, die fürs menschliche Gehirn schwer zu interpretieren sind. Erst die KI erlaubt uns also, aus der immensen Menge an Radarinformationen relevante Attribute zu identifizieren, die auf ein zu alarmierendes Ereignis hindeuten. So basiert beispielsweise unsere Sturzerkennung auf einem trainierten KI-Modell. Darüber hinaus spielt KI eine Schlüsselrolle bei der Automatisierung unseres Systems. Sie erkennt etwa, wenn eine Drittperson, wie etwa eine Pflegefachperson, in der Nähe des Patienten ist. In solchen Fällen pausiert das System automatisch das Monitoring, um Fehlalarme zu vermeiden und die Effizienz zu steigern.

QUMEA benötigt also weder Kameras noch braucht es Kontrollen auf einem Bildschirm oder Display und insofern ist auch die Privatsphäre der Patienten gewährleistet?

Das ist richtig. QUMEA verzichtet vollständig auf Technologien, die Rückschluss auf eine bestimmte Person erlauben, wie dies etwa bei Kameras oder Mikrofonen möglich ist. Das macht das System von Grund auf anonym und damit prädestiniert für sensible Umgebungen, wie eben das Patientenzimmer oder das Zimmer der Bewohnerin eines Pflegeheims. Dieser Grundsatz war für uns von Beginn an entscheidend und liess uns überhaupt erst diese Lösung denken.

«QUMEA verzichtet vollständig auf Technologien, die Rückschluss auf eine bestimmte Person erlauben.»

Die Bedürfnisse in einer Geriatrie unterscheiden sich von jenen in der Pflege oder in der Rehabilitation. Wie individuell lässt sich Ihr System anwenden?

Das QUMEA-System ist hochgradig individualisierbar, auf den Patienten und auf die Station. Das Pflegepersonal legt pro Patient individuell fest, was sie monitoren möchten und bei welchen Ereignissen eine Notifikation erwünscht ist. Dabei lassen sich auch Alarmierungs- und Eskalationsregeln innerhalb des Pflegeteams umsetzen. Auch gibt es unterschiedliche Anforderungen an die Integrationstiefe: Je nach Umgebung gelangen QUMEA-Warnungen auf ein Alarmsystem eines Drittherstellers oder die durch QUMEA erfassten Aktivitätsdaten gelangen automatisch in die Pflegedokumentation.

Wichtige Daten konnten Sie in diesem Jahr in zwei Spitälern in Schweden erheben. Welche Ergebnisse zeigte der dortige Einsatz der QUMEA-Sensoren?

Die Daten wurden an zwei schwedischen Spitälern erhoben, eines davon – das Universitätsspital Sahlgrenska – ist das zweitgrösste Spital Europas und das grösste in Schweden, das andere ein typisches, mittelgrosses Spital. An beiden Orten konnte unabhängig voneinander gezeigt werden, dass der Einsatz von QUMEA zu einem Rückgang der Stürze um 67% führte, verglichen mit derselben Periode der beiden Vorjahre. Gleichzeitig wurde die Akzeptanz des Systems beim Personal erhoben und mit Bestnoten bewertet. Auch in Schweden herrscht ein grosser Mangel an Pflegefachpersonen, weshalb die Unterstützung durch QUMEA speziell geschätzt wird.

Nicht selten landen Menschen erst wegen Stürzen in der Pflege. Liesse sich Ihr System in anderer, reduzierter Form nicht auch für den privaten Bereich nutzen?

Aus technologischer Sicht ist dies absolut denkbar. Wir werden regelmässig angefragt für Anwendungen in ganz unterschiedlichen Industrien und Umgebungen. Unser Fokus liegt auf dem institutionellen Umfeld, sprich auf Spitäler und Pflegeheimen. Das QUMEA-System wurde spezifisch für diese Umgebung entwickelt und fügt sich nahtlos in die Prozesse dieser Institutionen ein. Im häuslichen Umfeld ist es oft schwierig sicherzustellen, dass die Pflegekräfte genügend schnell am Ort des Geschehens sein können, was für die akute Prävention unabdingbar ist.

Wie viele Institutionen setzen die QUMEA-Sensoren bereits ein?

Über 70 Häuser haben sich bereits für den Einsatz von QUMEA entschieden. Besonders motivierend hierbei ist, dass der Mehrwert von QUMEA bisher in jeder Teststellung bewiesen werden konnte und sämtliche Institutionen nach einem Test QUMEA angeschafft haben.

Sie haben die angespannten Personalsituation in Pflege- und Gesundheitseinrichtungen angesprochen. Werden Sie von Anfragen überhäuft?

Wir erhalten tatsächlich eine grosse Anzahl von Anfragen. Wie Sie richtig erkennen, erhöht das System nachweislich nicht nur die Patientensicherheit, sondern auch die Sicherheit für die Pflegenden, und trägt damit zu einer relevanten Entlastung bei. Erste Studien weisen eine Aufwandreduktion um 20% aus – wertvolle Zeit, die der Pflegequalität gewidmet werden kann. Schön zu sehen ist, dass wir diese Effekte auch ausserhalb der Schweiz sehen und eine entsprechende Nachfrage verzeichnen.

«QUMEA wurde aus einer gemeinsamen Leidenschaft für Radar-Technologie und dem Wunsch gegründet, durch technologische Innovation einen positiven Beitrag in der Gesundheitsbranche zu leisten.»

QUMEA wurde 2019 gegründet. Was können Sie uns zur Entstehungsgeschichte erzählen?

QUMEA wurde aus einer gemeinsamen Leidenschaft für Radar-Technologie und dem Wunsch gegründet, durch technologische Innovation einen positiven Beitrag in der Gesundheitsbranche zu leisten. Meine zwei Mitgründer und ich kannten uns bereits von einer früheren Zusammenarbeit bei einem erfolgreichen Schweizer Technologiestartup. Während der frühen Phasen der Corona-Pandemie erkannten wir die dringende Notwendigkeit eines kontaktlosen und anonymen Monitorings von Patienten, um das Pflegepersonal zu entlasten und die Sicherheit der Patienten zu verbessern. Das System wurde daraufhin in enger Zusammenarbeit mit dem Felix Platter Spital in Basel entwickelt und ist seit Anfang 2021 auf dem Markt.

Herr Gyger, besten Dank für das Interview.

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