Dirk Lambrecht, CEO Dätwyler Gruppe, im Interview
von Bob Buchheit
Moneycab.com: Herr Lambrecht: Werkstoffe, die für Dichtungen, Versiegelungen und Verschlüsse benötigt werden, sind kurzum Dätwylers Kernkompetenz. Hätte die Explosion des US-Raumtransporters Challenger mit den richtigen Dichtungsringen verhindert werden können?
Dirk Lambrecht: Ob es damals in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts bereits bessere Dichtungen gegeben hätte, entzieht sich meiner Kenntnis. Das von Ihnen erwähnte Beispiel zeigt aber sehr anschaulich, wie wichtig scheinbar unbedeutende Komponenten sein können und wie wichtig auch für diese Komponenten die Spezifikationen sind. Unserer Komponenten hätten sicherlich die Spezifikation eingehalten, oder wir hätten den Auftrag nicht angenommen. Dätwyler-Komponenten leisten unter anderem in der Healthcare- und in der Automobilindustrie einen wichtigen Beitrag zur Gesundheit und zur Sicherheit von Patienten und Autofahrern auf der ganzen Welt. In jedem zweiten Auto und in Milliarden von Arzneimitteldosen und Spritzen stehen sie erfolgreich im Einsatz.
«Missionskritische Elastomer-Komponenten in kundespezifischer Massenproduktion» ist, was Dätwyler herstellt. Würden Sie das so eins zu eins unterschreiben?
«Missionskritisch, erfolgskritisch oder systemkritisch» beschreiben in diesem Zusammenhang sehr gut die Bedeutung in den Systemen unserer Kunden. Und wie Sie richtig bemerken, handelt es sich bei unseren systemkritischen Komponenten nicht um Kleinserien. Im Gegenteil: Wir fertigen in unseren 23 Werken auf vier Kontinenten mehr als 30 Milliarden Teile pro Jahr. Das sind 90 Millionen Teile pro Tag. Trotz der grossen Bedeutung unserer Komponenten für die Qualität der Kundensysteme tragen sie nur einen kleinen Teil zu den Gesamtkosten der Systeme bei.
«Wir fertigen in unseren 23 Werken auf vier Kontinenten mehr als 30 Milliarden Teile pro Jahr.»
Dirk Lambrecht, CEO Dätwyler Gruppe
Welche Rolle spielt IT in Ihren Produktionsabläufen?
Bei mehr als 30 Milliarden produzierter Teile pro Jahr kommt der IT und vor allem der Automation der Produktionsprozesse eine hohe Bedeutung zu. Die Beschleunigung der Digitalisierung ist denn auch eine unserer strategischen Prioritäten. In unserem neusten Produktionswerk in den USA haben wir die modernsten Industrie-4.0-Technologien umgesetzt. In dieser papierlosen Fabrik steuern wir die Abläufe basierend auf Echtzeit-Informationen. Aber auch als Gesamtunternehmen bewegen wir uns mittels einem einheitlichen zukunftsfähigen ERP-System hin zu einer datengesteuerten intelligenten Organisation. Wo immer möglich, wollen wir digitale Technologien wie künstliche Intelligenz, maschinelles Lernen und moderne Analytik nutzen. Auch die Netzwerk- und Cybersicherheit mittels ständiger Überwachung durch interne und externe Spezialisten hat für uns höchste Bedeutung.
In den letzten Jahren haben auch das Sourcing und Lagermanagement im Auftrag der Kunden eine grosse Bedeutung gewonnen. Wie stark hilft das bei der Kundenbindung?
Je nach Kundenbedürfnissen arbeiten wir bereits in der Beschaffung der Rohmaterialien eng mit den Spezialisten der Kunden zusammen. Dies ist Teil unseres Selbstverständnisses als Entwicklungspartner. Ein gutes Beispiel dafür ist unser Grosskunde Nespresso. Durch Investitionen und Anpassungen in unseren Produktionsprozessen unterstützen wir Nespresso dabei, Kapseln mit 80% rezykliertem Aluminium auf den Markt zu bringen. Damit tragen wir zu ihrem Versprechen bei, dass bis 2022 jede Tasse Kaffee klimaneutral ist. Dazu leistet auch die seit 2012 CO2-neutrale Produktion an unserem Schweizer Standort einen Beitrag. Ab 2022 werden wir erstmalig umweltfreundliche Nutzfahrzeuge mit Wasserstoffantrieb für den Transport der Kapseln einsetzen.
«Durch Investitionen und Anpassungen in unseren Produktionsprozessen unterstützen wir Nespresso dabei, Kapseln mit 80% rezykliertem Aluminium auf den Markt zu bringen.»
Die Gesundheitsindustrie ist eine der Grossbranchen, die von Ihnen bedient wird. Wie viele der SARS-CoV-2-Impfstoffproduzenten sind Dätwyler-Kunden?
Wir unterstützen mehrere der führenden Pharmaunternehmen in der Bereitstellung von Covid-19-Impfstoffen.
Was genau produzieren Sie für diese?
Unsere Elastomerkomponenten verschliessen die Impfdosen. Zusätzlich produzieren und liefern wir auch die Aluminium- und Plastikteile, die den Verschluss der Impfdosen komplettieren. Einerseits müssen unsere Komponenten einen absolut dichten Verschluss gewährleisten. Anderseits darf es zu keiner Interaktion oder zu Auswaschungen zwischen dem Impfstoff und dem Elastomermaterial kommen. Um das zu verhindern, beschichten wir die Komponenten mit einem speziellen Material. Auch die Covid-19-Impfstoffe sind ein gutes Beispiel für die systemkritische Bedeutung unserer Komponenten.
Hat sich im Bereich Healthcare Solutions das Wachstum durch die Covid-19-Impfstoffe weiter beschleunigt?
Der Healthcaremarkt und insbesondere der Markt für flüssige Arzneimittel waren bereits vor Covid-19 ein Markt mit attraktiven Wachstumsraten. Durch die zusätzliche Nachfrage nach Verschlüssen und Kolben für die Covid-19-Impfstoffe hat sich dieses Wachstum weiter beschleunigt. Um in der globalen Lieferkette nicht zum Flaschenhals zu werden, investieren wir in den Ausbau unserer Produktionsanlagen in unseren bestehenden Healthcarewerken, in den USA, Europa und Indien.
«Zusammen mit unseren Mitarbeitenden sind wir stolz, dass wir mit unseren systemkritischen Elastomerkomponenten weltweit einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung der Pandemie und zum Wohlergehen der Menschheit leisten können.»
Der Verkauf von Tochterunternehmen führte zu einem nicht liquiditätswirksamen Buchverlust von CHF 464.5 Millionen und einem ausgewiesenen Nettoergebnis auf CHF –346.3 Millionen, das mit den Gewinnreserven verrechnet wurde. Kann das irgendwie steuerlich genutzt werden?
Bei der Behandlung der Buchverluste aus der Devestition der Distributionsunternehmen handelte es sich um einen buchhalterischen Vorgang aufgrund unseres Rechnungslegungsstandards Swiss GAAP FER, das sogenannte Recycling über die Erfolgsrechnung. Die steuerlichen Möglichkeiten mittels operativen Verlustvorträgen wurden bereits vor der Devestition genutzt.
Elektromobilität steht nun im Unternehmensfokus dank der Business Unit Mobility. Werden wir in 2030 zu zwei Dritteln elektrisch fahren?
Dies ist eines der Szenarien, welches wir verfolgen. Zur Beurteilung der Elektromobilität müssen aber auch wir uns auf die allgemein verfügbaren Studien stützen. Wir produzieren bereits seit mehreren Jahren Komponenten für Elektroautos und erhöhen die Anzahl der Projekte kontinuierlich. Bei der Mehrheit der Komponenten handelt es sich um anspruchsvolle Teile aus mehreren Materialien wie Thermoplast, Flüssigsilikon oder Elastomer, welche in einem Arbeitsgang produziert werden. Besonderes Potenzial sehen wir bei Komponenten für Sensoren, deren Zahl pro Fahrzeug in Zukunft stark zunehmen wird. Zudem eröffnen Smart-Rubber-Produkte mit integrierten Mikrosensoren neue Anwendungen für aktive Assistenz- und Sicherheitssysteme im Fahrzeug. Der durchschnittliche Wert der Dätwyler Komponenten pro Fahrzeug wird sich durch den Wechsel zum Elektroantrieb voraussichtlich nicht wesentlich verändern.
Nun da sich Dätwyler nur auf die profitabelsten Bereiche konzentriert hat, was dürfte da im Normalfall als EBITDA-Marge herausschauen?
Wir befinden uns immer noch mitten in einer Pandemie und die Unsicherheiten sind daher unverändert hoch. Für das Jahr 2021 sind wir jedoch sehr zuversichtlich, dass wir unsere angekündigten Ziele einer Umsatzsteigerung auf über 1,1 Milliarden Franken und einer EBIT-Marge um 15% erreichen können.