Adrian Vatter, Professor für Schweizer Politik an der Universität Bern
Luzern – Die Konsensbereitschaft unter den politischen Akteuren hat in den letzten Jahren abgenommen. Polarisierung und Blockaden schaden der Wirtschaft. Adrian Vatter, Professor für Schweizer Politik an der Universität Bern, spricht am Europa Forum Luzern über die veränderte Dynamik in unserer direkten Demokratie.
Unser Politiksystem ist auf Konkordanz, Kompromiss und Konsens ausgerichtet. Doch Populismus, Provokation und Parteiprogramme nehmen überhand. Was ist passiert?
Vatter: Von herausragender Bedeutung für den politischen Wandel ist der Siegeszug der Schweizerischen Volkspartei (SVP) seit Beginn der 1990er Jahre. Mit dem polarisierenden Stil der SVP veränderte sich auch die Kultur der politischen Auseinandersetzung zwischen den Parteien in der Schweiz: Der Konkurrenzkampf wurde offener und aggressiver ausgetragen, die Konsensbereitschaft nahm ab und die Wahlkampfparolen wurden deutlich aggressiver. Mit dem Ende der „Zauberformel“ wurde schliesslich auch der Bundesrat als „Scharnier der Konkordanz“ geschwächt. Insgesamt hat sich unsere Konkordanzdemokratie zu einem stark polarisierten System gewandelt.
Das Initiativrecht wird heute von den Parteien als Wahlkampfinstrument eingesetzt. Welchen Folgen hat dies für die Wirtschaft?
Die Nutzung der direkten Demokratie erweist sich für die Parteien im Kampf um Aufmerksamkeit als besonders attraktive Wahlkampfstrategie. Gerade für SP und SVP bieten sich mit eigenen Initiativen gute Profilierungsmöglichkeiten gegenüber der Konkurrenz im Kampf um Wählerstimmen, während die beiden regierungstreuen Parteien für ihr konkordantes Verhalten von der Wählerschaft bisher schlecht belohnt wurden. Dabei besteht die Gefahr, dass offenkundige Nachteile der Konkordanz wie die fehlende Fähigkeit zu grundlegenden und raschen Reformen mit den negativen Seiten der plebiszitären Demokratie im Sinne polarisierender Auseinandersetzungen zwischen den Parteien im Schatten eines permanenten Wahlkampfs kombiniert werden. Politische Blockaden und fortlaufende Polarisierung sind aber der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes nicht zuträglich.
«Mit dem polarisierenden Stil der SVP veränderte sich auch die Kultur der politischen Auseinandersetzung zwischen den Parteien in der Schweiz.»
Stösst die direkte Demokratie in der Schweiz an ihre Grenzen? Sind die Regeln der Demokratie neu zu definieren?
Grundlegende Demokratiereformen, die auf eine Abschaffung der direkten Demokratie hinauslaufen, sind wenig wahrscheinlich und auch wenig erfolgversprechend. Solange aber die Konkordanzzwänge wie das fakultative Referendum bestehen, lassen sich neue Lösungen nur unter Berücksichtigung eng gesteckter Grenzen finden, wobei in der Vergangenheit auch schon weniger weitreichende Staatsreformen an den Eigeninteressen der Politiker gescheitert sind. Hinzu kommt: Trotz aller Kritik an den jüngsten Entwicklungen braucht die Schweiz in Bezug auf ihre Wirtschaftskraft und ihre Wettbewerbsfähigkeit keinen Vergleich zu scheuen. Da zudem der in den letzten Jahren stattgefundene Wandel von einer gut funktionierenden Konkordanzdemokratie hin zu einem polarisierten System hauptsächlich eine Folge der nachlassenden Elitenkooperation mit den bekannten negativen Wirkungen auf die Regierungsbildung, strategische Politikgestaltung und politische Stabilität ist, rücken weniger die Institutionen als vielmehr der angemessene Umgang mit ihnen in den Fokus der Kritik. Wichtiger als die Änderung der Spielregeln erscheinen deshalb die Bereitschaft der politischen Akteure zur gütlichen Konfliktbeilegung und ihr Bekenntnis zu konkordantem Verhalten.
«Die abnehmende Bedeutung der vorparlamentarischen Phase hat in den letzten Jahren zu einem Strategiewechsel der Wirtschaftsverbände geführt.»
Welche Rolle kommt Wirtschaftsvertretern in einer direkten Demokratie zu?
Traditionell kommt der Mitsprache der Wirtschaft und ihren Spitzenverbände im vorparlamentarischen Entscheidungsprozess aufgrund ihrer ausgebauten Referendumsmacht eine grosse Bedeutung zu. Bei wichtigen Gesetzen wird deshalb von Seiten der Bundesbehörden vorgängig die Zustimmung der Spitzenverbände der Wirtschaft gesucht, um eine Referendumsabstimmung zu einem späteren Zeitpunkt zu verhindern.
Die abnehmende Bedeutung der vorparlamentarischen Phase hat in den letzten Jahren allerdings zu einem Strategiewechsel der Wirtschaftsverbände geführt. Sie verlagerten den Schwerpunkt ihrer Aktivitäten auf die Intensivierung des direkten Lobbyings im Parlament sowie die Einflussnahme auf die öffentliche Meinungsbildung durch massenmediale Kampagnen (Campaigning) und die Führung profes-sioneller Referendumskämpfe. Die Wirtschaft und ihre Verbände par-tizipieren heute sehr aktiv an der direkten Demokratie mit der Finan-zierung von Kampagnen zu Referenden und Initiativen. Sie investieren dabei am meisten Mittel von allen politischen Akteuren. Es ist deshalb wichtig, dass sie nicht nur branchenspezifische Ziele verfolgen, sondern die gesamtgesellschaftlichen Interessen berücksichtigen. (Europa Forum Luzern/mc)