Michael Frank, Direktor Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen VSE, im Interview

Michael Frank

Michael Frank, Direktor des Verbands Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen (VSE). (Foto: zvg)

von Patrick Gunti

Moneycab.com: Herr Frank, während Sie sich seit Jahren mit dem Thema Versorgungssicherheit beschäftigen, ist es in einer breiten Öffentlichkeit erst in den letzten Monaten angekommen. Welche Erklärung haben Sie dafür?

Michael Frank: Begonnen hat es mit dem Weckruf des Bundes letzten Herbst. Es wurde kommuniziert, dass bereits ab 2025 ernstzunehmende Versorgungsengpässe drohen. Zeitgleich rief Bundesrat Parmelin die Wirtschaft zur Vorbereitung auf allfällige Mangellagen auf. Die rekordhohen Energiepreise, der Krieg in der Ukraine und die damit verbundenen Diskussionen um ein Gasembargo haben die Versorgungssicherheit dann endgültig auf Platz 1 katapultiert.

Wie wahrscheinlich ist denn nun aus Ihrer Sicht eine Strommangellage? Unter welchen Szenarien kann diese Situation eintreten?

Der Krieg in der Ukraine hat die Situation verschärft. Gemäss ElCom bestehen denn auch bereits im kommenden Winter Unsicherheiten hinsichtlich der Versorgungssicherheit. Die Möglichkeit von Engpässen (max. 47 Stunden) kann nie zu 100% ausgeschlossen werden. Doch halten wir auch eine Strommangellage, also einen über mehrere Tage oder Wochen andauernden Zustand, in dem die Stromnachfrage das Stromangebot übersteigt, für ein realistisches Szenario. Dieses tritt ein, wenn mehrere Faktoren europaweit ungünstig zusammenkommen. Etwa, wenn der Verbrauch wegen einer boomenden Wirtschaft gekoppelt mit einem kalten Winter sehr hoch ist und zeitgleich wenig Windenergie produziert wird und französische Kernkraftwerke ausfallen. Auch ein allfälliges Gas-Embargo würde die europäische Stromversorgung und damit diejenige der Schweiz erschweren.

«Wir halten eine Strommangellage, also einen über mehrere Tage oder Wochen andauernden Zustand, in dem die Stromnachfrage das Stromangebot übersteigt, für ein realistisches Szenario.»
Michael Frank, Direktor Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen VSE

Und was passiert, wenn sich tatsächlich eine Strommangellage einstellt?

Eine Strommangellage wird durch den Bundesrat ausgerufen. Gestützt auf das Landesversorgungsgesetz würde er Massnahmen erlassen, die den Stromverbrauch und das Stromangebot steuern. Ziel der Massnahmen ist es, Stromangebot und -nachfrage auf einem reduzierten Niveau auszugleichen, um noch drastischere Konsequenzen zu verhindern. Die Ostral, die Organisation für Strom in ausserordentlichen Lagen, als Kommission des VSE, ist für die Umsetzung der Massnahmen zuständig.

Im Dezember letzten Jahres hat der VSE seine Roadmap Versorgungssicherheit mit allen notwendigen Massnahmen vorgestellt. Welche Punkte haben dabei Priorität?

Versorgungssicherheit ist ein Gesamtsystem. Produktion, Speicher, Handel, Verbrauch, Netze, Steckdose: Alles muss gleichzeitig funktionieren. Von über 40 Massnahmen entlang der gesamten Wertschöpfungskette erachten wir deren zehn als prioritär, darunter insbesondere Massnahmen zur Schliessung der Winterstromlücke, ausgeweitete Zielvereinbarungen betreffend Energieeffizienz und eine effektive Interessenabwägung zwischen Schutz und Nutzen, damit die erneuerbaren Energien endlich ausgebaut werden können. Die Massnahmen sind jetzt einzuleiten, sonst erreicht die Schweiz ihre Energie- und Klimaziele nicht.

Die Energiestrategie 2050 des Bundes sieht als Kernpunkte den Ausstieg aus der Atomenergie, den Ausbau erneuerbarer Energien und die Steigerung der Energieeffizienz vor. Sie haben es angetönt, gerade bei den erneuerbaren Energien stockt der Prozess. Sehen Sie eine Lösung?

Mit dem heutigen Ausbautempo droht die Schweiz in eine kritische Stromversorgungslage zu geraten. Massgeblich tragen dazu die Bewilligungsverfahren bei, die unverhältnismässig lang dauern, sowie die Einsprachen, die gegen praktisch jedes Projekt eingereicht werden. Das muss sich ändern. Die Beschleunigungsvorlage des Bundesrats geht in die richtige Richtung, muss aus unserer Sicht aber auf alle erneuerbaren Energien und die Netzinfrastruktur ausgeweitet und geschärft werden, damit sie die gewünschte Wirkung entfalten kann. Darüber hinaus braucht es eine vorgängige übergeordnete Interessenabwägung zwischen Schutz und Nutzung und materiellrechtliche Anpassungen im Raumplanungs- und Umweltrecht. Im Zweifel muss die Versorgungssicherheit vorgehen. Das verlangt auch die Bevölkerung gemäss einer Umfrage von gfs.bern in unserem Auftrag.

«Mit dem heutigen Ausbautempo droht die Schweiz in eine kritische Stromversorgungslage zu geraten. Massgeblich tragen dazu die Bewilligungsverfahren bei, die unverhältnismässig lang dauern, sowie die Einsprachen, die gegen praktisch jedes Projekt eingereicht werden.»

Mit den Diskussionen um die Versorgungssicherheit ist auch das Thema neue AKW wieder aufs Tapet gekommen. Wie stellt sich der VSE dazu?

Das Volk hat 2017 entschieden, dass in der Schweiz keine neuen Kernkraftwerke gebaut werden. Gemäss der Umfrage von gfs.bern ist dies weiterhin die Haltung in der Bevölkerung. Die bestehenden AKW sollen so lange laufen, wie sie sicher und wirtschaftlich sind. Aus Sicht des VSE müsste eine neue Generation AKW die Schwächen der alten ausmerzen, namentlich hinsichtlich der Kernschmelze und der Abfallentsorgung. Spruchreif ist hier noch nichts, das vor 2050 realisiert werden und massgeblich zur Versorgungssicherheit beitragen könnte. Die Diskussion lenkt ab von dem, was jetzt getan werden muss. Engpässe drohen uns schon viel früher, weshalb der VSE sich auf das Hier und Jetzt und damit erneuerbare Energien, Speicher sowie Effizienz fokussiert.

Der Bundesrat will allfällige Ausfälle in der Stromversorgung bereits ab nächsten Winter mit einer Wasserkraftreserve verhindern. Reserve-Kraftwerke sollen als zweite Absicherung dienen. Wie stellen Sie sich zu den Plänen?

Der VSE unterstützt das. Insbesondere begrüssen wir, dass die Wasserkraft-Reserve bereits im nächsten Winter abrufbar sein soll. Das bedeutet aber nicht, dass sich die Schweiz jetzt zurücklehnen darf. Der Fokus muss trotzdem auch weiterhin auf dem Ausbau der erneuerbaren Energien liegen. Wir müssen rascher vorwärtskommen und Blockaden beim Ausbau der Erneuerbaren beseitigen. Damit wir gar nicht erst in Situationen geraten, in denen Gas notwendig wäre. Mit dem Ukrainekrieg stehen Gas-Importe heute in einem anderen Kontext.

Wie stellen Sie sich zum vom Bundesrat vorgeschlagenen Rettungsschirm für systemrelevante Anbieter?

Der VSE begrüsst den Grundsatz einer subsidiären Notfallmassnahme, um die Stromversorgung auch bei einer ausserordentlichen Marktentwicklung gewährleisten zu können. Verglichen mit der Vernehmlassung hat der Bundesrat die Vorlage bereits verbessert. Aus unserer Sicht sind aber weitere Nachbesserungen unerlässlich. Die Notfallmassnahme muss freiwillig und allen, nicht nur selektiv einzelnen Unternehmen zugänglich sein. Es ist zudem zentral, dass Auflagen und Pflichten verhältnismässig, klar und nicht präventiv auferlegt werden, sondern nur dann, wenn konkreter Bedarf besteht.

Auch wenn genügend Strom vorhanden ist, braucht es ja immer noch die Netze. Welche Bedeutung hat der Netzausbau resp. die Netzerneuerung im Zusammenhang mit der grösser werdenden Bedeutung von erneuerbaren Energien?

Die Netze sind die andere Hälfte der Versorgungssicherheits-Miete. Ohne sie kann Strom nicht transportiert werden. Der Umbau des Energiesystems kann nur gelingen, wenn das Stromnetz erneuert, digitalisiert und, wo nötig, ausgebaut wird. Aus unserer Sicht wird den Netzen zu wenig Beachtung geschenkt, unter anderem auch in der Beschleunigungsvorlage. Dabei sind schlanke Bewilligungsverfahren und ein zukunftsorientierter Regulierungsrahmen, der langfristige Investments ermöglicht, auch für die Netze machtentscheidend. Ein wesentliches Element ist der kalkulatorische Zinssatz WACC.

«Der Umbau des Energiesystems kann nur gelingen, wenn das Stromnetz erneuert, digitalisiert und, wo nötig, ausgebaut wird. Aus unserer Sicht wird den Netzen zu wenig Beachtung geschenkt, unter anderem auch in der Beschleunigungsvorlage.»

Nach dem Abbruch der Verhandlungen über ein Rahmenabkommen mit der EU ist auch ein Stromabkommen derzeit kein Thema. Obwohl Mitglied des europäischen Verbundnetzes, ist die Schweiz so nicht gleichberechtigter Partner. Wie stark leidet die Schweiz bereits unter dem fehlenden Stromabkommen?

Ohne Stromabkommen ist die Stabilität des Schweizer Stromnetzes gefährdet: Das Schweizer Übertragungsnetz ist integraler Bestandteil des europäischen Verbundnetzes, aber es entgleitet zunehmend der Hoheit der Schweizer Akteurinnen und Akteure. Kein Stromabkommen zu haben verursacht gravierende Systemrisiken, wirkt sich negativ auf die Importfähigkeit und die Versorgungssicherheit aus und führt zu hohen Kosten für die Schweizer Stromkonsumentinnen und -konsumenten. Eine geregelte, möglichst effiziente und hindernisfreie Stromkooperation mit unserem wichtigsten Handelspartner ist daher für die Schweiz zentral. Ein Stromabkommen hätte klare Vorteile.

Die angespannte Preissituation hat sich mit dem Ukraine-Krieg weiter verschärft. Gemäss einer VSE-Umfrage dürften die EVUs den Strompreis Ende Jahr um 20% erhöhen. Wie einheitlich wird diese Erhöhung sein?

Die Bandbreite des Strompreisanstiegs ist von EVU zu EVU unterschiedlich und liegt teilweise weit auseinander. Die Unterschiede hängen wesentlich davon ab, ob Strom mehrheitlich über Eigenproduktion bezogen oder am Markt beschafft wird. Vier von fünf EVUs gaben an, Strom mehrheitlich am Markt zu beschaffen, wobei die Hälfte diesen langfristig einkauft (zwei bis drei Jahre im Voraus). Die am Markt tätigen EVUs gehen davon aus, die Strompreise stärker erhöhen zu müssen als jene, die hauptsächlich aus Eigenproduktion beziehen.

Herr Frank, besten Dank für Ihre Ausführungen.

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