Michèle Rodoni, CEO die Mobiliar, im Interview
Von Helmuth Fuchs
Moneycab: Frau Rodoni, Sie sind seit Januar 2021 CEO der Mobiliar. Welche Projekte oder Ideen, die Ihnen persönlich wichtig waren, haben Sie seither initiiert oder durchgeführt?
Michèle Rodoni: Mir ist der Erhalt unserer Lebensgrundlagen sehr wichtig. Als genossenschaftlich verankerte Mobiliar wollen wir zu einer klimakompatiblen und solidarischen Wirtschaft und Gesellschaft beitragen. Wir sehen, dass extreme Wetterereignisse generell zunehmen. Wir rechnen mit häufigeren Starkniederschlägen und vermehrt mir sehr heftigen, stationären Gewittern.
«Die Mobiliar hatte bis zum Zeitpunkt der Corona-Pandemie nicht zwischen Epidemie und Pandemie unterschieden. Deshalb kamen wir den Versicherungsleistungen, die wir mit unseren Kunden und Kundinnen vereinbart haben, vollumfänglich nach. Insgesamt bezahlten wir Pandemieschäden von über einer halben Milliarde Franken.» Michèle Rodoni, CEO die Mobiliar
Als Versicherung haben wir ein Interesse daran, Schadenursachen von Grund auf zu verstehen. Deshalb investieren wir in die Naturrisiken- und Klimafolgenforschung. Dazu gehört unter anderem unser Engagement für das Mobiliar Lab für Naturrisiken an der Universität Bern, mit den Forschungsschwerpunkten Hochwasser, Hagel und Stürme. Die Zusammenarbeit mit der Forschung ist wichtig, damit wir frühzeitig agieren und uns vorbereiten können.
Bei der Deckung der Pandemieschäden haben sich einige Versicherungen auf den Standpunkt gestellt, dass diese nicht versichert seien, da sie technisch prinzipiell gar nicht versicherbar seien. Welche Position hat hier die Mobiliar?
Die Mobiliar hatte bis zum Zeitpunkt der Corona-Pandemie nicht zwischen Epidemie und Pandemie unterschieden. Deshalb kamen wir den Versicherungsleistungen, die wir mit unseren Kunden und Kundinnen vereinbart haben, vollumfänglich nach. Insgesamt bezahlten wir Pandemieschäden von über einer halben Milliarde Franken. Heute wissen wir: Für ein solches Grossrisiko brauchen wir eine öffentlich-rechtliche Partnerschaft, die wir gerne mittragen. Wir würden es daher begrüssen, wenn der Bundesrat die Frage einer Pool-Lösung für Pandemien nochmals prüfen könnte.
Die Mobiliar hat trotz aussergewöhnlich hohen Schadensfällen im 2021 (Sommerunwetter, rund 72’000 Schadensmeldungen) den Gewinn um 8,5 Prozent auf 475 Millionen gesteigert. Die Kassen sind voll, die Finanzlage ist sehr komfortabel. Wofür wollen Sie diese Mittel in den kommenden Jahren einsetzen, welches sind die finanziell aufwendigsten Projekte?
Erstens investieren wir innerhalb weniger Jahre eine Milliarde Franken in unsere IT-Systeme. Das ist zentral für uns und unsere Versicherten. Wir erneuern unsere Nichtleben-Versicherungen, was uns erlaubt, die ganze Wertschöpfungskette über alle Kanäle bei Bedarf vollständig zu digitalisieren. Hiermit verschaffen wir uns in der Branche einen einzigartigen Vorteil.
Zweitens hat die Mobiliar in den vergangenen Jahren expandiert. In unseren Ökosystemen rund ums Wohnen und KMU sind neue Unternehmen wie Bexio, Flatfox, Buildigo und Liiva dazugekommen. Diese wollen wir nun weiterentwickeln. Drittens prüfen wir regelmässig attraktive Opportunitäten und werden investieren, sofern diese in unsere Strategie passen.
Bei Amtsantritt sahen Sie vor allem Wachstumschancen im Geschäft mit KMU und im Themenbereich Wohnen. Wie beurteilen Sie diese Wachstumsfelder heute, mit welchen speziellen Massnahmen wollen Sie das Potential in diesen beiden Bereichen
ausschöpfen?
Beide Segmente sind hart umkämpft. Wir wachsen weiter, weil wir uns mit ergänzenden Serviceleistungen und im Schadenfall unterscheiden. Ökosysteme und strategische Partnerschaften werden dabei bedeutender. In sie investieren wir. Damit sichern wir den direkten Kontakt zu unseren Kundinnen und Kunden, um ihnen zum richtigen Zeitpunkt das richtige Angebot anzubieten. Zudem entwickeln wir unsere Versicherungsprodukte laufend weiter, etwa im Cyberbereich. Für die Landwirtschaft bauen wir zurzeit die neue Wetterversicherung in verschiedenen Regionen gezielt auf und aus.
«Wir investieren innerhalb weniger Jahre eine Milliarde Franken in unsere IT-Systeme. Das ist zentral für uns und unsere Versicherten. Wir erneuern unsere Nichtleben-Versicherungen, was uns erlaubt, die ganze Wertschöpfungskette über alle Kanäle bei Bedarf vollständig zu digitalisieren.»
Die Mobiliar hat schon relativ früh in die Digitalisierung investiert und alleine im 2018 150 SpezialistInnen zusätzlich angestellt. Im letzten Jahr wurde die Mobiliar dafür mit dem Digital Economy Award für Grossunternehmen ausgezeichnet. Wo sehen Sie selbst die grössten Chancen und Risiken beim Thema Digitalisierung?
Die Digitalisierung macht unseren Kundinnen und Kunden und uns vieles einfacher. Das Erledigen von Schäden zeigt dies eindrücklich: Früher waren manchmal mehrere Besichtigungen vor Ort notwendig, heute genügt oft ein Handyfoto, das uns Versicherte einreichen. So kommen sie schneller zu ihrer Schadenzahlung und wir arbeiten schneller.
In der Effizienz sehe ich die grössten Chancen der Digitalisierung. Die Risiken sind uns allen bekannt, die Abhängigkeit von IT-Netzwerken, Daten sowie die Gefahr von Cyberattacken zum Beispiel. Unsere eigene Cyberabwehr hat für mich deshalb eine hohe Priorität. Den Kunden bieten wir auch in diesem Bereich erstklassige Services und Versicherungen.
Welche Fähigkeiten müssen Sie im Unternehmen noch weiter entwickeln?
Um à jour zu bleiben, braucht es eine gezielte Förderung während des ganzen Arbeitslebens. Wir werden gezielt in die Aus- und Weiterbildung unserer Mitarbeitenden investieren. Zudem bauen wir die agile Arbeitsform in der Mobiliar aus. Das ist anspruchsvoll für alle Beteiligten, weil es ein grosser Kulturwandel ist. Weniger direkte Führung von oben, mehr Verantwortung für die Teams.
Die Mobiliar investiert sehr aktiv in Startups, wie zum Beispiel in Carvolution, Skribble oder Nexxiot, ist Ankerinvestorin des Swiss Entrepreneur Funds. Bexio und Flatfox hat sie vollständig übernommen. Wie passt die Kultur eines Grossunternehmens in einer sich doch eher gemächlich ändernden Industrie zu derjenigen von Startups, wie stellen Sie sicher, dass die Startups ihre Agilität beibehalten im Umfeld der Mobiliar?
Wir kombinieren die Stärken aus beiden Welten: Was können wir von Startups lernen und wie können wir umgekehrt unsere Erfahrung und unsere Kraft einbringen – ohne die Einzigartigkeit der jungen Firma zu «überintegrieren»? Oder anders ausgedrückt: Wie arbeiten Startups oder KMU mit einem Grossunternehmen wie der Mobiliar auf Augenhöhe zusammen? «Verbinden» und «Stärken» sind für mich die zentralen Begriffe.
Im Februar 2020 hat sich die Mobiliar mit 25% an Ringier beteiligt mit der Begründung, dass Ringier die Mobiliar unterstützen könne in der digitalen Transformation. Inwieweit haben sich die Erwartungen schon erfüllt, welchen Beitrag können Sie zur Entwicklung von Ringier in Ihrer neuen Rolle deren Verwaltungsrätin leisten?
Dank der strategischen Beteiligungen an Scout24 und Ringier konnten wir letztes Jahr die Zusammenlegung der digitalen Marktplätze von Scout24 und TX Markets ermöglichen und mitgestalten. Das neue Unternehmen vereint verschiedene Marktplätze und erweitert unseren Horizont. Erträge aus diesen Marktplätzen fliessen an die Mobiliar. Wir können mit diesem Geld unser Kerngeschäft weiterentwickeln – ganz im Sinne unserer Kundinnen und Kunden.
«Enormes Potenzial sehe ich bei den Daten. Grosse Mengen lassen sich mit automatisierter künstlicher Intelligenz auswerten.»
Im Ringier-Verwaltungsrat bringe ich meine Expertise ein. Ringier zählt wie die Mobiliar zu den Schweizer Unternehmen, die auf dem Weg der digitalen Transformation weit fortgeschritten sind.
Die Digitalisierung und Plattform-Ökonomie bieten hervorragende Chancen, erfolgreiche Geschäftsmodelle mit überschaubaren Kosten in anderen Ländern anzubieten. Wie sehen die Pläne bei der Mobiliar aus, international zu expandieren?
Wir sind mit unserem Kerngeschäft primär in der Schweiz und in Liechtenstein tätig. Es ist für uns jedoch entscheidend, neue Geschäftsmodelle unabhängig vom Kerngeschäft frühzeitig testen zu können. So sichern wir unseren wirtschaftlichen Erfolg langfristig. Das ist der Grund für den Aufbau unserer Tochtergesellschaft Companjon in Irland. Ihr Geschäftsmodell ist es, Versicherungen direkt in eine Dienstleistung oder Ware eines Geschäftspartners einzubetten.
Welche technologischen Entwicklungen haben das grösste Potential, das Versicherungsgeschäft in den kommenden Jahren fundamental zu verändern?
Enormes Potenzial sehe ich bei den Daten. Grosse Mengen lassen sich mit automatisierter künstlicher Intelligenz auswerten. Das erlaubt uns, das Verhalten der Versicherten besser zu verstehen und ihnen passgenauere, individuellere Angebote zu machen – sofern dies die Kundinnen und Kunden explizit wollen!
Unsere spezialisierten Beraterinnen und Berater wird es weiterhin brauchen. Als Versicherer setzen wir uns intensiv damit auseinander, wie wir das Zusammenspiel von Technologie und persönlicher Beratung optimal gestalten können. Unsere 80 Generalagenturen mit 160 Standorten in der ganzen Schweiz werden für die Mobiliar die zentrale Kontaktstelle zu den Kundinnen und Kunden bleiben. Auch in einer Welt, in der immer mehr digital erledigt wird.
Zum Schluss des Interviews haben Sie zwei Wünsche frei, wie sehen die aus?
Mir reicht ein Wunsch. Ich wünsche mir, dass der starke Zusammenhalt und die Solidarität der Schweizer Gesellschaft erhalten bleibt – es kommen herausfordernde Zeiten auf uns zu, in denen wir gut zueinander schauen müssen.
Michèle Rodoni Die gebürtige Genferin Michèle Rodoni (52) mit Tessiner Wurzeln spricht drei Landessprachen fliessend. Sie entdeckt früh ihre Leidenschaft für Mathematik und studiert Aktuarwissenschaften. Danach ist sie für verschiedene führende Versicherungsunternehmen tätig, bis sie 2012 zur Mobiliar stösst. Sie führt zuerst den Geschäftsleitungsbereich Vorsorge, wechselt dann an die Spitze des Markt Managements mit Marketing und Vertrieb und wird schliesslich am 1. Januar 2021 CEO die Mobiliar. Seit 2021 ist sie zudem Vorstandsmitglied des Schweizerischen Versicherungsverbands SVV. Michèle Rodoni hat zwei erwachsene Kinder und lebt am Genfersee. Michèle Rodoni bei Linkedin |
Das Interview entstand in Zusammenarbeit mit dem Swiss Digital Economy Award