Philippe Spicher, CEO Inrate
Philippe Spicher, CEO Inrate.
Von Alexander Saheb
Moneycab: Warum gefällt Ihnen Nachhaltigkeit?
Philippe Spicher: Mir gefällt Nachhaltigkeit nicht nur – ich halte sie für eine absolute Notwendigkeit. Die Welt sieht sich heute Herausforderungen gegenüber, die globale Ausmasse angenommen haben: Klimawandel, Wasserknappheit, Ungleichheiten, Armut – um nur wenige zu nennen. Hierfür brauchen wir unbedingt nachhaltige Lösungen.
«Der Begriff „Nachhaltigkeit der Geschäftstätigkeit“ wird oft verwendet, auch von Rating-Agenturen wie Inrate. Doch er ist eine Art Abkürzung und kann daher zu Missverständnissen führen.» Philippe Spicher, CEO Inrate
Inrate begutachtet zahlreiche Firmen auf die Nachhaltigkeit ihrer Geschäftstätigkeit hin. Wie gut gelingt das und wie weit geht das über die reine Datensammlung zu Emissionen und Verbräuchen hinaus?
Lassen Sie mich zuerst einen Punkt näher erläutern: Der Begriff „Nachhaltigkeit der Geschäftstätigkeit“ wird oft verwendet, auch von Rating-Agenturen wie Inrate. Doch er ist eine Art Abkürzung und kann daher zu Missverständnissen führen. Was wir damit meinen ist der Beitrag eines Unternehmens oder Industriezweigs zu einer nachhaltigen Entwicklung – nicht die Nachhaltigkeit des Unternehmens oder seiner Geschäftstätigkeit an sich. Und genau diesen Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung versuchen wir zu messen. Dazu analysiert Inrate, welche Auswirkungen die verschiedenen Unternehmungen auf eine nachhaltige Entwicklung haben. Daraus ergeben sich je nach Unternehmung unterschiedliche Herausforderungen. Auf dieser Grundlage beurteilt Inrate, inwieweit die Richtlinien und Massnahmen, welche Unternehmungen implementieren, Wirkung zeigen und auf Umwelt und Gesellschaft positive Effekte erzielen. Dabei berücksichtigt Inrate den gesamten Lebenszyklus von Produkten und Dienstleistungen.
«Gesetze sind nicht immer die effizienteste Lösung für ein Problem – und vor allem sind sie nicht die einzige Lösung.»
Das heisst, nicht nur unternehmensinterne Prozesse, auch die gesamte Zuliefererkette sowie die Nutzung der Produkte und Dienstleistungen fliessen in die Bewertung ein. Dies ist von besonderer Bedeutung, da in manchen Fällen die Nutzungsphase der Produkte den Grossteil der Umwelt- und Sozialwirkungen ausmacht. Grundlage unserer Beurteilung sind die verschiedenen Rohdaten, die uns aus unternehmensinternen und Drittquellen zur Verfügung stehen. Doch bevor wir diese für eine Analyse nutzen können, gilt es, aus Rohdaten verwertbare Informationen zu machen: Unsere Analysten sichten diese, vereinheitlichen sie und stellen Zusammenhänge her. Mit diesen Informationen nehmen wir dann die eigentliche Unternehmensbeurteilung vor. Sie dreht sich um zwei grundlegende Fragen: Ist sich die Unternehmung über ihre wichtigsten Herausforderungen hinsichtlich nachhaltiger Entwicklung bewusst? Und zeigen die dahingehend implementierten Massnahmen Wirkung?
Wie Sie sich denken können, stellt diese Arbeit hohe Anforderungen an unsere Nachhaltigkeitsanalysten. Auf der einen Seite benötigen sie Sachkompetenz in verschiedenen Disziplinen. Daher arbeiten in unserem Team Personen mit diversen fachlichen Hintergründen: Ökonomen, Geografen, Ingenieure, Sozialwissenschaftler, die meisten mit langjähriger Erfahrung. Doch mindestens ebenso wichtig sind persönliche Kompetenzen wie die Fähigkeit, einen Sachverhalt aus verschiedenen Blickwinkeln zu beurteilen.
Wie viele Firmen im von ihnen begutachteten Firmenuniversum beurteilen Sie eigentlich als schlecht in Sachen Nachhaltigkeit, oder beurteilen Sie nur die guten?
Unser Research-Universum kommt aufgrund wirtschaftlicher Kenngrössen zustande und nicht aufgrund einer Vorauswahl aufgrund von Nachhaltigkeitskriterien. Welche Firmen dann das Prädikat „besonders gut“ oder „schlecht“ erhalten, ist das Ergebnis unserer Arbeit. Daher erstellen wir für alle Unternehmen in unserem Research-Universum eine vollständige Analyse. Übrigens lassen sich die wenigsten Unternehmen klar den Kategorien „gut“ oder „schlecht“ zuordnen. Nachhaltigkeitsanalyse ist keine Schwarzweiss-Malerei. Natürlich gibt es Firmen, die nicht einmal Minimalstandards erfüllen und daher klar das Prädikat „schlecht“ erhalten. Über alle Unternehmen hinweg betrachtet ist das Ergebnis unserer Analyse aber eher ein Kontinuum der Nachhaltigkeit: Es zeigt auf, in welchem Mass Unternehmen zu einer nachhaltigen Entwicklung beitragen. Die Abstufung ist hierbei graduell.
Investoren legen Gelder gern nachhaltig an, üben damit aber eigentlich eher indirekt Druck auf Firmen aus, nachhaltig zu arbeiten. Denn von Gesetzes wegen muss man als Firma nicht besonders nachhaltig sein. Wäre das nicht aber besser?
Es ist unmöglich, alles nur per Gesetz zu regeln. Nehmen Sie das Beispiel Kinderarbeit. Kinderarbeit ist per Gesetz verboten, sogar in Drittwelt- und aufstrebenden Ländern. Den entsprechenden Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO haben sich die meisten Länder verpflichtet. Trotzdem gibt es Kinderarbeit. Gesetze sind nicht immer die effizienteste Lösung für ein Problem – und vor allem sind sie nicht die einzige Lösung. Auch verschiedenen Akteuren und Stakeholders kann eine wichtige Rolle zukommen. Gezielter Druck vonseiten Konsumenten, NGOs oder aktiven Investoren bei den Unternehmen können schneller zur Lösung eines Problems führen als neue Gesetze. Im Fall von Kinderarbeit sind diese Akteure ein sehr wichtiger Faktor – zusätzlich zur bereits bestehenden Gesetzgebung. Dezentrale Kontrolle ist hier das Stichwort.
Im Idealfall greifen die verschiedenen Ansätze (staatliche Regulierung, Marktregulierung, freiwillige Standards) ineinander und ergänzen sich. Wo aus unserer Sicht gesetzliche Grundlagen wünschenswert wären, ist bei der Offenlegungspflicht. Der Gesetzgeber könnte festlegen, welche nicht-finanziellen Informationen Unternehmen offenlegen müssen. In der EU ist derzeit eine Konsultation im Gange, mit dem Ziel, die bereits vorhandenen Richtlinien weiter zu konkretisieren. Diesen Prozess verfolgen wir natürlich sehr aufmerksam.
Inrate setzt, wie viele andere Anbieter von Nachhaltigkeitsuntersuchungen, auf eigenes Research und System. Das zeigt, dass verbindliche einheitliche Standards, etwa eine ISO-Norm, fehlen. Welche Entwicklung erwarten Sie auf dem Gebiet der Vereinheitlichung von Nachhaltigkeits-Kriterien?
Es gibt tatsächlich ganz unterschiedliche Research-Agenturen und spezialisierte Inhouse-Teams bei den verschiedenen Asset Managern. Hierfür gibt es einen einfachen Grund: Die verschiedenen Agenturen tun nicht alle genau dasselbe– auch wenn es auf den ersten Blick so aussehen mag. Grob gesagt gibt es drei Arten von „Nachhaltigkeitsuntersuchungen“. Zum einen die sogenannte Materiality-Methode: Hier werden nur diejenigen Kriterien berücksichtigt, die direkte Auswirkungen auf ökonomische Massstäbe haben. Ziel ist hier vor allem die Optimierung der Rendite der Anlagefonds.
Beim ethischen Ansatz hingegen geht es vor allem um den Ausschluss von gewissen Geschäftstätigkeiten, die sich mit Wertvorstellungen nicht vereinbaren lassen, wie zum Beispiel Glücksspiel oder Waffenproduktion. Und als drittes wäre die Nachhaltigkeitsanalyse zu nennen, die aus Sicht einer nachhaltigen Entwicklung den Beitrag der Unternehmen dazu analysiert. Dabei berücksichtigt sie auch die Auswirkungen der Produkte und Dienstleistungen eines Unternehmens mit, das heisst den gesamten Lebenszyklus. Die drei Ansätze haben ganz unterschiedliche Schwerpunkte. Daher unterscheiden sich nicht nur die Resultate der jeweiligen Analysen voneinander, sondern auch die daraus abgeleiteten Anlagefonds.
Wo wir eine Möglichkeit der Standardisierung sehen ist beim Research-Prozess an sich. Vor diesem Hintergrund waren wir bereits 2004 Gründungsmitglied der Dachorganisation für unabhängiges Nachhaltigkeits-Research AICSRR (Association for Independent Corporate Sustainability and Responsibility Research). Ziel dieser Organisation ist es, hohe professionelle Standards für Organisationen in diesem Bereich zu entwickeln und zu fördern. Ein wichtiges Thema ist hier die Transparenz: Welcher der genannten Ansätze wird verfolgt und welche Indikatoren werden überprüft? Dies ist eine grundlegende Entscheidungshilfe für Investoren.
Jüngst haben Sie mit Swisscanto eine Übereinkunft zur Lieferung von Research getroffen, welches rund 2’600 Firmen weltweit umfasst. Wie schaffen Sie das mit laut Webseite etwas über 20 Mitarbeitenden?
Einerseits verfügt Inrate über ein sehr erfahrendes internes Researchteam mit über 20 Analysten. Die meisten von ihnen arbeiten seit mehr als fünf Jahren als Nachhaltigkeitsanalysten für Inrate. Zusätzlich können wir auf die Kapazitäten unserer Partner in Europa, Nordamerika und Asien zurückgreifen. Dieses Netzwerk ist über die Jahre gewachsen und wir entwickeln es laufend weiter. Unsere Partner kommen vor allem zu Beginn des Beurteilungsprozesses zum Zug, wenn es gilt, Daten zusammenzutragen und erste Auswertungen vorzunehmen. Besonders wichtig für uns sind die deren Sprachkenntnisse (wie zum Beispiel Chinesisch, Japanisch oder Hindi) sowie die Nähe zu den dortigen Unternehmen. Unsere internen Analysten übernehmen diese Aufgaben vor allem für europäische Unternehmen. Zusätzlich nehmen sie die qualitative Analyse über alle Unternehmen hinweg vor, um die Einheitlichkeit der Ratings zu gewährleisten. Insgesamt besteht unser multidisziplinärer Research-Pool daher aus über 40 Analysten.
«Unser Ziel ist, 2011 genauso stark zu wachsen wie 2010. Gleichzeitig möchten wir die Bekanntheit der Marke Inrate weiter vergrössern, auch über die Schweiz hinaus.»
Welche Meilensteine konnte Inrate 2010 erreichen?
Ein wichtiger Meilenstein war sicherlich unsere Fusion, die wir 2010 erfolgreich abgeschlossen haben. Inrate in Zürich und Centre Info in Fribourg verband seit Herbst 2008 eine strategische Zusammenarbeit, die 2010 in die Fusion mündete. Durch die Fusion haben wir die Marke „Inrate“ gestärkt und können als fusionierte Firma die Weiterentwicklung der Nachhaltigkeitsanalyse und Produktinnovationen beschleunigen. 2010 konnten wir ausserdem unsere Kundenbasis signifikant ausbauen. Neu zählen zu unseren Kunden zum Beispiel Swisscanto, Merrill Lynch sowie Securvita mit dem Naturaktien-Index (NAI). Damit festigen wir unsere Führungsposition in der Schweiz und sind auf dem besten Weg, in Grossbritannien und Deutschland weiter zu expandieren.
Welche Entwicklungen im Jahresverlauf haben Sie besonders erfreut?
Nun, aus Firmensicht hat mich natürlich sehr gefreut, dass wir die Ziele, die wir uns vor und während der Fusion gesetzt haben, erreicht haben. Zu den wichtigsten zählten die Stärkung der Marke Inrate und der Ausbau unserer Kundenbasis. Sehr erfolgreich war auch unsere Zusammenarbeit mit dem European Sustainable Investment Forum (Eurosif). Wir haben ein weiteres Mal einen Bericht mit Eurosif publizieren können, dieses Mal zu Nachhaltigkeit in Emerging Markets. Meine persönlichen Highlights waren in diesem Jahr die Zusammenarbeit mit vielen „neuen“ Mitarbeitenden sowie die Tatsache, mich neuen Themen und Herausforderungen stellen zu können.
Welches sind Ihre Pläne für das Jahr 2011?
Unser Ziel ist, 2011 genauso stark zu wachsen wie 2010. Gleichzeitig möchten wir die Bekanntheit der Marke Inrate weiter vergrössern, auch über die Schweiz hinaus. Und ich bin überzeugt, dass unser Team das schaffen wird. Die Kundenanforderungen an die Nachhaltigkeitsanalyse entwickeln sich – wie alles – stetig weiter. Unser Ziel ist es, auch 2011 diese Trends zu antizipieren und im richtigen Moment die passende Lösung für unsere Kunden parat zu haben.
Der Gesprächspartner:
Philippe Spicher war ab 1994 bei Centre Info als ESG-Analyst tätig. Als Leiter der Research-Abteilung (1996 bis 1999) führte er ein formales System zur Bewertung ökologischer und sozialer Unternehmensleistungen ein. Von 1999 bis Frühjahr 2010 war er CEO von Centre Info und ist seit der Fusion CEO der neuen Inrate. Philippe Spicher ist Diplom-Volkswirt (HEC Universität Lausanne) und verfügt über einen Abschluss im Fach Umweltmanagement. Er ist Mitbegründer von Sustainable Finance Geneva und ehemaliger Berater des Schweizer Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) für den Bereich Unternehmensführung (Corporate Governance).
Das Unternehmen:
Die Inrate AG ist eine unabhängige Nachhaltigkeitsrating-Agentur, die Kunden in ganz Europa betreut. Sie hat ihren Sitz in der Schweiz und entstand 2010 aus der Fusion zwischen INrate und Centre Info. Inrate hat über 20 Jahre Erfahrung darin, profunde Nachhaltigkeitskenntnis mit den Finanzmärkten zu verknüpfen. Derzeit deckt Inrate rund 2600 Unternehmen weltweit ab und bietet massgeschneiderte Lösungen für Investoren an, die bei ihren Finanzanlagen ESG-Kriterien berücksichtigen möchten – sei es im Rahmen einer nachhaltigen Anlagestrategie oder um die nichtfinanziellen Risiken von traditionellen Anlagen zu minimieren.