Prof. Hermann Simon, Gründer Simon-Kucher & Partners, im Interview

Prof. Hermann Simon, Gründer, Simon-Kucher & Partners (Foto: Simon-Kucher & Partners)

Von Karin Bosshard

Moneycab.com: Pricing ist keine enge Disziplin, sondern erfordert philosophisches Denken und Verstehen, sagen Sie. Damit werfen Sie alle gängigen Lehrmeinungen über den Haufen, richtig?

Hermann Simon: Ich würde nicht sagen, dass ich gängige Meinungen über den Haufen werfe, aber enge Meinungen, die nur den Preis im Auge haben, sind in der Tat nicht angebracht. Der Preis und die Reaktionen auf ihn sind ein sehr komplexes Phänomen, das man nicht nur in einer Zahl, dem Preis, fassen kann. Man muss dafür ein breiteres Verständnis anlegen. Dabei ist Philosophie hilfreich. Erstaunlicherweise haben alte Philosophen wie Sokrates, Aristoteles oder Thomas von Aquin Aussagen zum Preis getroffen. Die Philosophie ist eine wahre Fundgrube für dieses Thema.

Bleiben wir bei ihrer Philosophie des Preises. Was ist der wichtigste Aspekt beim Pricing?

Diese Frage wurde mir tausendmal gestellt, und ich habe immer nur eine Antwort. Der Wert für den Kunden, präziser ausgedrückt der vom Kunden wahrgenommene Wert. Eine anderes Wort dafür ist Nutzen. Warum ist dieser Aspekt entscheidend? Der Preis, den ein Kunde zu zahlen bereit ist, die sogenannte Preisbereitschaft ist nur eine Wiederspiegelung des wahrgenommenen Nutzens. Nimmt man einen höheren Nutzen wahr, dann ist man auch bereit, mehr zu zahlen. Bei niedrigerem Nutzen gilt genau das Umgekehrte. Insofern muss der Ausgangspunkt beim Pricing immer der wahrgenommene Wert oder Nutzen sein.

«Der richtige Preis hängt von der Zielsetzung des Unternehmens ab.»
Prof. Hermann Simon, Gründer, Simon-Kucher & Partners

Der Wert liegt im Auge des Betrachters, heisst es. Wie definieren Sie Wert?

Die Aussage, dass der Wert im Auge des Betrachters liegt, bedeutet, dass es keine allgemeine Definition für den Wert geben kann. Deshalb spricht man hier auch von der subjektiven Werttheorie. Es ist eine rein individuelle Entscheidung, welchen Wert ein Verbraucher beispielsweise einer Marke, dem Design, der Qualität zumisst. Das liegt in seinem autonomen Ermessen. Deshalb kann man Wert in diesem Sinne nicht allgemein definieren.

Wenn der Wert gleich dem Preis ist, bedeutet das im Endeffekt …?

… dass man den Wert kennen muss, und zwar nicht nur qualitativ, sondern ihn quantifizieren können muss. Denn der Preis ist eine Zahl, und wenn diese Zahl sich auf den Wert bezieht, dann muss man dem Wert auch eine Zahl zuordnen können. Das aber ist sehr schwierig, und man kann sagen, dass dies die Kernkompetenz von Simon-Kucher ist.

Wie kommt ein „richtiger“ Preis zustande und gibt es einen „gerechten“ Preis?

Der richtige Preis hängt von der Zielsetzung des Unternehmens ab. Will man z. B. mit einem neuen Produkt eine starke Marktposition aufbauen bzw. einen hohen Marktanteil erreichen, wird man mit einem niedrigeren Preis hineingehen, als wenn man den kurzfristigen Gewinn maximieren will. Es gibt also keine generelle Antwort auf die Frage nach dem richtigen Preis.

Die Frage nach dem gerechten Preis betrifft einen ganz anderen Inhalt. Dieses Konzept wurde von Thomas von Aquin im Mittelalter aufgebracht und war sehr stark durch die katholischen Moral und Ethik bestimmt. So sah Thomas von Aquin Preiserhöhungen in Katastrophensituationen oder bei steigender Nachfrage als Diebstahl an. Diese Auffassung wurde von den spanischen Scholastikern aufgegeben. Heute betrachten wir einen Preis, der sich unter wettbewerblichen Bedingungen bildet, als unproblematisch in dieser Hinsicht. Es gibt allerdings Notsituationen, lebensrettende Medikamente und ähnliche Fälle, wo man immer noch mit der Frage hadert, was der gerechte Preis ist. Leider muss man zugeben, dass die Theorie dazu keine überzeugende Antwort finden kann.

«Man muss die Vertriebsorganisation für Preismassnahmen gewinnen. Wenn sie nicht dahinter steht, werden die erhofften Erfolge ausbleiben.»

Wie sehen die Marktteilnehmer das Konzept des gerechten Preises?

Natürlich sehen die Marktteilnehmer das abhängig von ihrer Situation. Wer in Zeiten hoher Nachfrage bei Uber einen starken Aufschlag zahlen muss, dem gefällt das nicht. Aber er bekommt wenigstens ein Auto. Vielleicht würde es ihm noch weniger gefallen, wenn kein Angebot an Transportkapazität vorhanden wäre. Sehr viel schwieriger ist das beispielsweise bei lebensrettenden Medikamenten, die sehr teuer sein können. Hier stellt sich die Frage: Wer zahlt das letztlich? Auf diese Frage gibt es keine wirklich befriedigende Antwort.

Wo liegen die Risiken und Ängste im Management wenn es um das Preismanagement geht?

Manager haben in der Tendenz Angst vor dem Preis. Bei Preiserhöhungen wird diese Angst durch das Risiko des Kundenverlustes getrieben. Man weiss vorher nie, wie viele Kunden abspringen. Viele Preiserhöhungen mussten zurückgenommen werden, weil sie im Desaster endeten.

Genauso unsicher ist die Reaktion der Konkurrenz. Wenn man den Preis erhöht und die Konkurrenz wie erwartet mitzieht, kommt man damit durch. Wenn die Konkurrenz nicht mitzieht, muss man oft den Preis wieder zurücknehmen. Das ist für einen Manager die grösste Blamage, die man sich vorstellen kann.

Auch bei Preissenkungen besteht grosse Unsicherheit und damit Angst. Wird der Mehrumsatz, den man erwartet, tatsächlich kommen? Ziehen die Konkurrenten mit ihren Preisen nach, sodass man keinen Preisvorteil durch die Preissenkung hat? All das sind Ungewissheiten, die den Managern überhaupt nicht gefallen. Deshalb wird in der Regel oft nicht der optimale Preis realisiert. Vermutlich passiert das häufiger in Richtung des höheren Preises, dass also die Angst vor Preiserhöhungen das Erreichen des optimalen Preises verhindert. Bei Preissenkungen ist das vielleicht weniger der Fall.

Wo liegen die zentralen Herausforderungen beim Pricing?

Einmal in der Bestimmung des optimalen Preises. Da sind wir wieder beim Wert. Den Wert zu quantifizieren, kann sehr schwer sein. Das gilt inbesondere bei neuen Produkten oder bei neuen Geschäftsmodellen. Aber auch die Umsetzung ist eine sehr schwierige Herausforderung. Werden der Aussendienst und der Verkauf mitziehen? Stehen die Leute dahinter? Setzen sie sich für eine bestimmte Preismassnahme ein? Oder finden sie Tricks, diese zu unterlaufen? Das haben wir häufig erlebt, und deshalb unser Rat: Man muss die Vertriebsorganisation für Preismassnahmen gewinnen. Wenn sie nicht dahinter steht, werden die erhofften Erfolge ausbleiben.

Kann der Schlüssel zum Erfolg in der Preisdifferenzierung liegen?

Wenn die Wertwahrnehmung und damit die Preisbereitschaft nach Kunden oder Kundengruppen unterschiedlich sind, liegt natürlich ein ganz entscheidender Schlüssel zum Erfolg in der Preisdifferenzierung. Allerdings braucht man hier differenzierte Informationen, denn man handelt nicht mit Marktdurchschnitten, sondern mit einzelnen Marktsegmenten, deren Preisbereitschaft und Wertwahrnehmung man genau verstehen muss. Zum anderen kann es Verärgerung geben. Wenn z.B. Apple ein iPhone zu 599 Dollar eingeführt hat und es drei Monate später den Preis auf 399 Dollar senkte, verursacht das natürlich massiven Ärger bei den Erstkunden, die den höheren Anfangspreis gezahlt haben.

Man muss bei den Kunden vorsichtig sein. Das gilt vor allem im Internet, wo sehr viele Daten zur Verfügung stehen, die eine Preisdifferenzierung ermöglich machen. Hieraus kann sehr grosse Verärgerung bei Zielgruppen entstehen, die glauben, dass sie zu viel gezahlt haben. Umgekehrt besteht das Risiko, dass man für eine Zielgruppe, die weniger Kaufkraft hat, einen niedrigen Preis anbietet, und eine Zielgruppe mit höherer Kaufkraft an diesen Preis herankommt. Dann hat man den Vorteil der Preisdifferenzierung unterlaufen.

Das Internet erhöht die Preistransparenz. Wie wirkt sich das Internet auf die Werttransparenz aus?

Es ist richtig, dass das Internet die Preistransparenz massiv erhöht. Das scheint ein Vorteil für die Kunden zu sein. Aber auch die Werttransparenz wird erhöht. Das geschieht durch Feedback- und Ratingsysteme.

Wir wissen heute aus mehreren Studien, dass diese Kundenfeedbacks genauso wichtig sind wie Marken und ähnliche Einflüsse. Es scheint doch eher auf ein level playing field für Käufer und Verkäufer hinauszulaufen. Dabei spielt auch eine Rolle, dass gefälschte Feedbacks immer stärker von der Software kontrolliert werden. Amazon ist beispielsweise bei Rezensionen schon sehr strikt. Buchungssysteme lassen Bewertungen von Hotel etc. nur zu, wenn man dort tatsächlich übernachtet hat. Die Zuverlässigkeit und Wahrhaftigkeit von Kundenratings wird verbessert. Damit nimmt auch die Werttranparenz nicht nur im Umfang, sondern auch in der Wahrhaftigkeit zu.

«Das Pricing im Internet ist weitgehend falsch. Das liegt an den Grenzkosten von null.»

Die Digitalisierung hat viele Produkte günstiger gemacht. Manches gibt es sogar kostenlos, etwa Speicherplatz in der Cloud. Was halten Sie davon?

Das ist in der Tat ein äusserst interessantes Problem. In der Harvard Business Review gab es kürzlich einen Aufsatz, der zeigte, dass es für viele Internetprodukte eine positive Zahlungsbereitschaft gibt, diese aber zu einem Preis von null, also frei, angeboten werden, etwa im Rahmen von Freemium-Modellen.

Ich gehe einen Schritt weiter und sage: Das Pricing im Internet ist weitgehend falsch. Das liegt an den Grenzkosten von null. Die Grenzkosten definieren die kurzfristige Preisuntergrenze. Die Firmen fallen hierauf in gewisser Weise herein. Ich bin überzeugt, dass wir in Zukunft vermehrt einen Übergang von Nullpreisen auf positive Preise sehen werden. Ich wäre sicherlich bereit, 10 oder 20 Euro pro Monat für den Zugang zur Google-Suchmaschine zu zahlen. Ich denke, dass Google eines Tages diese Preisbereitschaft anzapfen wird.

Kommen wir zum Schluss: Welche Frage wurde Ihnen bisher am häufigsten gestellt und welche wichtige Frage habe ich noch nicht gestellt?

Am häufigsten die Frage: Was ist der wichtigste Aspekt beim Pricing? Hier ist meine klare Antwort: Der Wert bzw. Kundennutzen. Es gibt sehr viele weitere wichtige Fragen, die im Rahmen eines solchen Interviews nicht gestellt werden können. Ich habe eins in den knapp 50 Jahren gelernt, in denen ich mit Preisthemen befasse. Bei jedem Projekt tauchen neue Fragen auf. Man glaubt nicht, wie vielfältig dieses Thema ist. Vielleicht ist das nicht überraschend, denn der Preis ist das zentrale Scharnier der Marktwirtschaft. Insofern spiegelt sich letztendlich alles, was sich in der Marktwirtschaft abspielt, im Preis wieder. Das habe ich in 50 Jahren gelernt.

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