Von Helmuth Fuchs
Herr Geramanis, seit mehr als einem Jahr befinden wir uns in der ungewohnten Lage, einen unsichtbaren Feind bekämpfen zu müssen mit rudimentären Werkzeugen und ohne den Erfahrungshintergrund gemeinsam eingeübter Abläufe. War zu Beginn die Solidarität noch gross, zeigen sich jetzt vermehrt Lagerbildungen unterschiedlich Betroffener. Wie können hier Erfahrungen aus dem Bereich der Gruppendynamik helfen?
Olaf Geramanis: Nichts eint so sehr wie ein gemeinsamer Feind. Vor einem Jahr war für ein Grossteil von uns noch klar, wie der Gegner heisst. Das schweisst zusammen. Allerdings ist bei einem unsichtbaren Virus das Feindbild schwierig aufrecht zu erhalten, vor allem, wenn sich die Verantwortlichen aus Politik und Wissenschaft untereinander uneins sind. Das macht die Situation deutlich komplexer.
«Tagtäglich sehen wir, wie die Unvereinbarkeit zu einer realen Bedrohung wird, über die beide Gruppen unversöhnlich in Konflikt geraten: Virologen versus Verschwörungstheoretiker, Testbefürworter versus Impfgegner.»
«Um aus diesem Teufelskreis auszusteigen, wäre ein erster wichtiger Schritt, die Kommunikation einer permanenten Existenzbedrohung herunterzufahren.» Prof. Olaf Geramanis, Hochschule für Soziale Arbeit, FHNW
Solidarität in Gruppen kommt dann zustande, wenn Gruppenmitglieder sicher voneinander erwarten können, dass auch die anderen sich kooperativ verhalten, sich an das Regelwerk halten und sich für ein gemeinsames Ganzes engagieren. Solange alle Beteiligten einsehen und von den anderen annehmen, dass sie diesen Anforderungen folgen, solange besteht unter ihnen ein System geteilter Verantwortlichkeit bzw. „Solidarität“.
Auf die aktuelle Situation übertragen heisst das, dass wir offensichtlich kein geeintes Volk sind. Wir können keine sicheren Erwartungen gegenüber unseren Mitbürgern ausbilden, ob und inwieweit sich diese noch an das Regelwerk halten: Wenn ich davon ausgehen muss, dass ich der Einzige bin, der eine Maske trägt oder sich an die Beschränkungen hält, schwindet meine Bereitschaft mich «verantwortlich zu verhalten», weil ich aufgehört habe, an den sozialen Zusammenhalt zu glauben.
Darin liegt das unauflösbare Spannungsfeld der Gruppendynamik begründet, das ein ständigen Balanceakt zwischen den Polen Solidarität als sozialer Zusammenhalt auf der einen und Egoismus als Wahrung der Individualität auf der anderen Seite darstellt.
Während die einen die Selbstverantwortung ins Zentrum stellen, möchten andere klare Vorgaben durch die politischen Führungsgremien. Wo Debatten überhaupt noch stattfinden, wird der Ton gehässiger, das gegenseitige Verständnis geringer. Wie können in einer solchen Situation Lösungen entstehen, die von der Gemeinschaft solidarisch getragen und umgesetzt werden?
Vielleicht ist das, was gerade passiert bereits eine «Lösung». Es geht um Prozesse der Grenzziehung und Lagerbildung, die zu einem «Wir» und «der Rest der Welt» führen. Um eine Gruppe in einer feindlichen Umgebung schlagkräftiger und überlebensfähiger zu machen, hilft ein solches Vorgehen von Kriegstreiberei. Was sich im ersten Moment irrational anhören mag, ist äusserst funktional: Es herrscht eine übergrosse Angst vor der Nicht-Klärbarkeit von Konflikten, weil die Konflikte als zu gross erscheinen. Tagtäglich sehen wir, wie die Unvereinbarkeit zu einer realen Bedrohung wird, über die beide Gruppen unversöhnlich in Konflikt geraten: Virologen versus Verschwörungstheoretiker, Testbefürworter versus Impfgegner.
Je mehr die Solidarität bröckelt, desto mehr versuchen Gruppen über Bedrohungsszenarien und Feindseligkeiten bewusst Angst zu schüren, um zumindest eine Zwangs-Solidarität und damit eine vermeintliche Sicherheit zu etablieren. Im Kollektiv stirbt es sich leichter.
Irving Janis nennt dieses Phänomen «Groupthink». Es bezeichnet einen Zustand, in dem die Mitglieder eine Entscheidung in kurzer Zeit und unter hohem Druck fällen müssen. Dies hält sie davon ab, kritische, ungewöhnliche oder unpopuläre Alternativen in Betracht zu ziehen. Stattdessen ist das Streben nach Einhelligkeit wichtiger. Dabei werden die Macht und Moral der eigenen Gruppe systematisch überschätzt. Scheuklappendenken, Uniformitätsdruck und unintelligenter Vereinfachung sind die Folgen. Dadurch entstehen Entscheidungsfehler, die im Nachhinein als irrational und unsinnig erscheinen.
Um aus diesem Teufelskreis auszusteigen, wäre ein erster wichtiger Schritt, die Kommunikation einer permanenten Existenzbedrohung herunterzufahren.
Das Coronavirus hat es geschafft, als eigentlich medizinisches Problem mit Auswirkungen primär auf das Gesundheitswesen, alle Lebensbereiche zu infizieren und die Welt in eine Sinn- und Wirtschaftskrise zu stürzen. Die nötige Zusammenarbeit der relevanten Wissenschaftsbereiche, zusammengefasst in der “Swiss National Covis-19 Science Task Force”, und der politisch verantwortlichen Kräfte (Bundesrat, BAG, Parlament) führt zunehmend zu Grabenkämpfen und Frustrationen. Wo liegen die Probleme, wie könnten sie behoben werden?
Wenn wir auf die «Swiss National Covid-19 Science Task Force» schauen, so zeichnet sich diese dadurch aus, dass sie «multirational» besetzt ist. Dort finden sich u.a. die Mikrobiologie, Biomedizin, Infektiologie, Immunologie, Ökonomie und Computerwissenschaften wieder. Je unterschiedlicher die Expertisen, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass widersprüchliche Entscheidungen vertreten werden. Steht eine exzellente Forschung oder die medizinische Grundversorgung im Vordergrund? Sollen ökonomischen Bewertungsmassstäben mehr Bedeutung beigemessen werden als dem Wohl von Kindern und Jugendlichen? Multiple Rationalitäten schaffen eine enorme Komplexität.
Das ist die eine Seite des Problems. Auf der anderen Seite geht es um die unterschiedlichen Handlungslogiken von Gruppe und Organisation. In einer Gruppe findet ein unmittelbarer Austausch unter Anwesenden statt. Auf dieser Ebene lassen sich «Themen» inhaltlich diskutieren. Auf Ebene der Organisation findet demgegenüber ein Austausch von «Entscheidungen» statt, die die Gruppen nun nach aussen vertreten müssen. Auf dieser Ebene geht es nicht mehr inhaltlich um Themen, sondern politisch um das Durchsetzen besagter «Entscheidungen».
«In einem Klima, in dem ein permanenter Kampf ums Überleben inszeniert wird, kann das Ergebnis weder Solidarität noch die Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme sein.»
Wenn wir die These im Auge behalten, dass wir uns aktuell in eine «kollektive Groupthink-Situation» manövriert haben, in der sich die Experten-Lager unvereinbar gegenüberstehen, kann es keine gemeinsame Lösung geben, ohne dass alle das Gefühl haben, einen faulen Kompromiss eingegangen zu sein.
Je stärker innerhalb eines Systems fortwährend Konkurrenzsituationen kreiert werden – wer kennt sich besser aus? wer ist besser ausgebildet? wer ist klüger? – desto unlösbarer die gemeinsame Entscheidungsfindung. Darin steckt die grundlegend falsche Annahme, vom «Erfolg positiver Konkurrenz» – In einem Klima, in dem ein permanenter Kampf ums Überleben inszeniert wird, kann das Ergebnis weder Solidarität noch die Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme sein.
Vor diesem Hintergrund der sehr unterschiedlichen Lösungen, die jede Rationalität für sich wählte, um auf die Pandemie zu reagieren, ist es eine wichtige Entscheidung der Politik, konkrete Rahmenbedingungen zu setzen (bspw. eine Ausgangsbeschränkung). Erst durch die Kommunikation der Dringlichkeit und die klaren Regelungen der Politik, die für viele Unternehmen wirtschaftliche Härten bedeuteten, kann ein koordiniertes Handeln erfolgen.
Unternehmen sehen sich konfrontiert damit, dass plötzlich ein grosser Teil der MitarbeiterInnen von Zuhause arbeitet, eingespielte Abläufe neu definiert werden müssen. Vor allem Unternehmen, die im Kern auf Hierarchien aufgebaut sind und vieles “von oben verordnet” wird, dürften Schwierigkeiten haben mit der neuen Situation. Wie können solche Veränderungen am besten bewältigt werden, was wird davon nach der Pandemie bleiben?
Die Pandemie stellt das Thema Hierarchie grundlegend auf den Prüfstand. Solange bürokratische Führung lediglich Synonym für Kontrolle ist, legitimieren sich Führungskräfte über die Menge der Fehler, die sie aufdecken. In derartigen Systemen werden die Individuen dazu erzogen, der Führung von oben zu gehorchen, ohne selbst entscheiden zu müssen. Eine solche Kultur sitzt tief, und lässt sich nicht per Dekret ändern. Was uns zum zweiten Problem führt: Das «Teile-und-Herrsche-Prinzip». Solange die Mitarbeitenden nur auf die Autorität fixiert sind, besteht keine Notwendigkeit sich untereinander abzustimmen – wenn wir das Informelle aussen vor lassen.
«Gute Führung bedeutet, erstens weg vom Kontrollzwang hin zu Vertrauensbereitschaft sowie einer partizipativen Orientierung.»
Zu diesen grundlegenden Problemen kommt hinzu, dass das Homeoffice die Mitarbeitenden nicht nur mit einer räumlichen Distanz konfrontiert, sondern zusätzlich mit einer operational-technischen sowie einer mental-emotionalen. Unter diesen Bedingungen kooperativ und auf selber Augenhöhe zu interagieren, benötigt Anleitung und Unterstützung. Dafür braucht es definitiv Führung! Aber eine Führung, die etwas ermöglicht – nicht verhindert. Eine Führung im Sinne von Begleitung, wie Konflikte kollegial gelöst und Entscheidungen kollektiv getroffen werden können. Gute Führung bedeutet, erstens weg vom Kontrollzwang hin zu Vertrauensbereitschaft sowie einer partizipativen Orientierung. Zweitens braucht es hohe Sensibilität hinsichtlich der individuellen Unterschiede und die Bereitschaft, zwischen unterschiedlichen Individuen zu vermitteln. Und drittens gilt es, vergleichbar einem guten Gastgeber, die diversen Kompetenzträger für je spezifische Fragestellungen zusammenzubringen und bei konkurrierenden Vorstellungen für eine faire Auseinandersetzung zu sorgen.
Der Bundesrat hat für die Schweiz einen Weg mit weniger Restriktionen als in vielen anderen Ländern gesucht und auch auf die Eigenverantwortung seiner BürgerInnen gesetzt. Auf der anderen Seite reibt er sich in Diskussionen um teilweise willkürliche Massnahmen auf (Schliessung von Aussen-Terrassen) auf. Welchen Stellenwert hat Eigenverantwortung in der Bekämpfung einer Pandemie, wo ist Fremdbestimmung angebracht?
In der Begleitung gruppendynamischer Trainings gibt es eine Faustformel, die lautet: «Alles was die Gruppe entscheiden kann, soll sie selbst entscheiden!» Für mich als Trainer bedeutet dies, so wenig wie möglich, aber dennoch so viel wie nötig zu intervenieren. Für die Unterscheidung dessen, was möglich und was notwendig ist, existiert allerdings kein objektiver Massstab. Politikausübung in Krisenzeiten ist immer eine Abwägung zwischen Gefahrenabwehr und damit einhergehenden Einschränkung persönlicher Freiheiten auf der einen und eben der Erhaltung dieser Freiheiten zur Ermöglichung von eigenverantwortlichem Handeln auf der anderen Seite.
Wenn wir uns abermals das Groupthink-Phänomen vor Augen führen, dann benötigen Gruppen, die sich in diesem Sinne «verrannt» haben, definitiv eine klare und gegebenenfalls restriktive Intervention von aussen, um sie vor sich selbst und anderen zu schützen. So sind wir aktuell in einer Situation, in der verschiedene Bevölkerungsteile schwierig bis gar nicht miteinander in den Austausch kommen. In dieser Situation lediglich an die Eigenverantwortung der Beteiligten zu appellieren, bedeutet sich der Verantwortung für das gelingende Ganze zu entziehen. Denn was die eine Gruppe für richtig hält und in der Eigenverantwortung lösen möchte, kann für einen anderen Bevölkerungsteil ein eklatanter Fehler sein. Hier sind unlösbare Konflikte vorprogrammiert.
Insofern löst das ein Bundesrat, der wie hier in der Schweiz die verschiedenen Bevölkerungsgruppen repräsentiert, mithilfe seiner Gruppendynamik im Kompromiss und damit für uns auf einer anderen Ebene.
Eine Gruppendynamik hat dort den grössten positiven Effekt, wo das Ziel bekannt und anerkannt ist und der Zweck der zur Zielerreichung nötigen Massnahmen einleuchtet. Aktuell macht sich eher eine Gruppenmüdigkeit breit. Woran liegt es, wie könnte hier wieder eine positive Entwicklung angestossen werden?
So plausibel sich Ihre Fragestellung anhört, ist sie nur eine Hälfte der Wahrheit. Es stimmt, dass Gruppen, denen von aussen Ziel und Zweck vorgegeben werden, eine positive Energie entwickeln können. Wir nennen dies zweckbezogene Steuerung: Das vorgegebene Arbeitsziel muss erreicht werden. Die Funktionalität steht im Vordergrund. Und die Motivation ergibt sich vor allem aus der Aufgabe. Fallen Ziel und Zweck weg, bedeutet das zumeist auch das Ende der Gruppe.
Gruppen sind jedoch ebenso zu einer «Selbstzweckbezogenen Steuerung» in der Lage, indem sie zu einem handlungsfähigen, kollektiv-autonomen Sozialkörper werden. Das mag sich kompliziert anhören, dahinter verbirgt sich jedoch die Fähigkeit von Gruppen zur Selbstorganisation. Die Interaktionen zwischen den Mitgliedern organisieren sich nicht allein über ihre Positionen oder Qualifikationen, sondern ganz konkret über deren je individuellen Wünsche, Bedürfnisse und Absichten der Zusammenarbeit.
«Wir werden die Digitalisierung bestimmt nicht dadurch überleben, dass wir unsere Kooperation den Algorithmen angleichen, sondern uns darauf besinnen, was Menschen dank gemeinsamer Handlungen an Kreativität und Innovation erschaffen können.»
Wenn eine Gruppe es schafft, ihre Prozesse, Widersprüche, Paradoxien selbst begreifen und steuern zu können und sich mit ihren unterschiedlichen Macht- und Einflusskonstellationen zu beschäftigen, dann wird sich eine solch «reife Gruppe» spielend den unterschiedlichsten Aufgaben stellen und je nach Bedarf sich immer wieder neuformieren können. In vielen komplexen Zusammenhängen brauchen wir heute genau diese arbeitsfähige, reife Gruppe. Diese wird in den Formaten der angewandten Gruppendynamik angestrebt, die vor allem mithilfe von Rückkoppelungsschleifen funktioniert und einen grundlegend emanzipatorischen Hintergrund hat. Sie kann eine Antwort auf die «Gruppenmüdigkeit» sein.
Überall dort, wo Gruppenarbeit lediglich auf Schlagworte wie «AGIL», «SCRUM» oder «Abstimmungsprinzipien» reduziert wird, oder uns Glauben gemacht werden soll, dass «MS TEAMS» auch nur annähernd die Komplexität menschlicher Kooperation abbilden könnte, kommen wir als reale Individuen nicht mehr vor. Wir werden die Digitalisierung bestimmt nicht dadurch überleben, dass wir unsere Kooperation den Algorithmen angleichen, sondern uns darauf besinnen, was Menschen dank gemeinsamer Handlungen an Kreativität und Innovation erschaffen können. Das motiviert weit über das nächste Ziel hinaus.
In der Pandemie hat die Digitalisierung zum Beispiel bei Meetings, Lernveranstaltungen oder der Arbeit von Zuhause (Home Office) einen massiven Entwicklungsschub erfahren. Virtuelle Begegnungen ersetzen in der Pandemie persönliche Treffen. Wo sehen Sie die grössten Chancen und Risiken dieser Entwicklung?
Was die Chancen angeht, so sind Online-Meetings eine hervorragende Möglichkeit, Zahlen, Daten, Fakten niederschwellig gemeinsam zu koordinieren. So wie man am Computer ein Update herunterlädt, so lässt man sich in einem kurzen Video-Call auf den neuesten Stand bringen. Vieles funktioniert aber auch nicht. Die Kurzformel lautet: «Wir können virtuell gemeinsam rechnen, aber nicht gemeinsam denken und leben!»
Was also die Risiken angeht, müssen wir darauf schauen, welches «Lernmodell» die Pandemie zur Verfügung stellt. Wir alle kennen Sprüche wie «Not macht erfinderisch» oder «Lernen durch Schmerz». Allerdings sind weder Not noch Schmerz gute Lehrmeister, vor allem veranlassen sie uns dazu, uns so zu verhalten, dass es möglichst schnell aufhört und vorbei ist. Diese zumeist erstbesten Lösung sind selten eine gute Antwort auf aktuelle Probleme. So verhalten sich im Zeitalter von flächendeckendem Homeoffice viele Menschen so, als hielten sie den Atem an, bis es endlich vorbei ist. Währenddessen korrodiert der soziale Kitt der Unternehmen. Langjähriges gegenseitiges Vertrauen beginnt mehr und mehr Schaden zu nehmen. Kreative und Innovative Prozesse werden zäh und schwierig.
«Sozialer Austausch, Interaktion und Kooperation am Arbeitsplatz sind Merkmale gesundheitsförderlicher Arbeit und ein relevanter Bestandteil des Arbeitsalltags.»
Untersuchungen haben gezeigt, dass sich Konflikte auf der Beziehungsebene und/oder Konflikte, die einen Arbeitsprozess betreffen, aufgrund ihrer Komplexität negativ und hinderlich auf die Leistung von Online-Teams auswirken. Sozialer Austausch, Interaktion und Kooperation am Arbeitsplatz sind Merkmale gesundheitsförderlicher Arbeit und ein relevanter Bestandteil des Arbeitsalltags. Positiv Face-to-Face-Beziehungen können das Bedürfnis nach sozialer Akzeptanz befriedigen. Gefühle sozialer Zugehörigkeit können dann entwickelt werden, wenn man eine gemeinsame Geschichte erlebt und sich organisationsintern austauscht.
Diese Bugwelle nicht geklärter Beziehungen und Konflikte schieben viele Unternehmen aktuell vor sich her und es wird sich zeigen, ob und inwieweit die Verantwortlichen Willens und in der Lage sind, sich diesen sozialen Themen zu stellen.
Das Parlament hat es vorgemacht gleich zu Beginn der Pandemie, viele BürgerInnen folgten seitdem dem Muster: In der Krise steigt die Bereitschaft, Macht, Rechte, Pflichten und die damit verbundene Verantwortung bereitwillig und schnell an eine höhere Instanz zu delegieren. So schnell dies geschieht, so schwer ist es, wieder zum ursprünglichen Zustand zurück zu finden. Wie erklären Sie sich dieses Verhalten und was heisst das in Hinblick auf eine Zukunft, in der die Krisen kaum weniger werden?
Wenn es brennt, sind klare Regelungen und Entscheidungsbefugnisse unumgänglich. So war gerade zu Beginn der Pandemie die Akzeptanz von Ausgangsbeschränkungen laut Umfragen in der Bevölkerung sehr hoch. Die Politik, das Gesundheitswesen und die Wirtschaft haben nach klaren, transparenten Spielregeln schnell neue Fakten geschaffen. In Krisen bewährt sich ein Top-Down-Führungsmodus.
Aber die Krise ging nicht einfach vorbei und durch den nachfolgenden ökonomischen Einbruch kämpfen zahlreiche Organisationen ums Überleben. Es kommt zu Einsparungen und Kündigungen. Dieser andauernde Druck führt dazu, dass vielerorts noch mehr als vor der Pandemie gearbeitet wird. Infolgedessen ist die Verführung gross, wieder autoritäre und heroische Führungsbilder heraufzubeschwören und bürokratische Verhältnisse sowie eine hierarchische Über- und Unterordnung zu reaktivieren: Stabile Organisationen befriedigen das Sicherheitsbedürfnis. Klare, längerfristige Zugehörigkeit vermittelt Geborgenheit. Wenn Positionen und Rollen eindeutig definiert und festgelegt sind, verleiht dies Identitätsklarheit. Und auch wenn ich nur eine kleine vorgegebener Teilaufgaben erfülle, so diene ich doch einem grösseren Ganzen. Die regressive Sehnsucht nach einer guten Autorität, die der übergrossen Komplexität ein Ende bereitet, war allerdings schon vor der Pandemie virulent, was sich beispielsweise in Form eines «Trumpismus» oder «Orbanismus» widerspiegelt.
Die grossen Wirtschaftsverbände möchten so schnell wie möglich die Aufhebung aller politischen Massnahmen, ohne aber die seit Beginn der Krise sich abzeichnenden Veränderungen im Verhalten der MitarbeiterInnen zu thematisieren (Wunsch nach neuer Work-Life-Balance, gestiegene Wertschätzung der Gesundheit, Erfahrung mit neuen Arbeitsabläufen und Entscheidungswegen). Wo sehen Sie fundamentale Neuerungen in Managementmodellen, welche diese in der Krise angestossenen Entwicklungen aufnehmen und weiterführen?
Die Krise fordert uns alle heraus. Sie verlangt, neben den zu erledigenden Aufgaben, Flexibilität, zusätzliches Engagement und eine hohe Bereitschaft, sich auf die veränderte Situation einzulassen und einzustellen. Aber allein damit ist es nicht getan, auf die Mitarbeitenden kommen neben den Sorgen um die Angehörigen zusätzliche Ängste zu: Stichwort «Kurzarbeit» – ist mein Arbeitsplatz noch sicher? Stichwort «Isolation» – werde ich noch mit den vertrauten Kolleginnen und Kollegen zusammenarbeiten? Stichwort «technische Kompetenzen» – Werde ich noch hinreichend qualifiziert sein bei «Slack, Zoom, Skype, Jitsi, WebEx oder Teams»?
In rasender Geschwindigkeit und mit viel Improvisationsgeschick wurden trotz all dieser Ängste Home-Office-Strukturen aufgebaut, der Einsatz virtueller Kommunikationstools geübt und obgleich der Arbeitsalltag vielerorts eingeschränkt war, wurde er zu einem grossen Teil aufrechterhalten. Indem die Unternehmen diese Mehr-Leistungen entgegengenommen haben, haben sie bei ihren Mitarbeitenden «soziale Schulden» aufgenommen! Der Begriff der «Sozialen Schulden» lässt sich in Anlehnung an den gängigeren Begriff der «Technischen Schulden» gut erklären: Um kurzfristig einen vorteilhaften Effekt zu haben, kann es sinnvoll sein, eine Software zu früh auszuliefern, obgleich die Fehlerbehandlungen, die Ausnahmebehandlungen, die Sicherheitsbehandlungen und die Notfallbehandlungen fehlen. All das schuldet der Entwickler dem Anwender, aber er lässt es zunächst mit dem Versprechen weg, es später einzubauen. Aber genau wie bei finanziellen Schulden nimmt der Mehraufwand mit der Zeit zu. Die «Zinsen» bestehen in dem erhöhten Aufwand einer späteren Implementierung sowie in den Verschlechterungen der wahrgenommenen Gesamtqualität.
Auf Unternehmen übertragen bedeutet es, dass von den Mitarbeitenden erwartet wird, dass sie alles tun, damit der Laden läuft. Dadurch entstehen «soziale Mehr-Kosten» für Engagement, Homeoffice, Überzeit, Zwangsferien, bis hin zum Aushalten der grossen Einsamkeit, in der Mitarbeitende allein – oder alleingelassen, wenn sie sich zugleich um Kinder und Haushalt kümmern – den kompletten Arbeitsalltag meistern müssen. Es wird sich zeigen, ob und inwieweit das Management anerkennt, dass es sich durch die Annahme dieser Mehrleistungen bei seinen Mitarbeitenden verschuldet hat und wie es all dem adäquat Rechnung tragen will. Ansonsten wird die Kiste «sozialer Schuldscheine» bald überquellen und die Mitarbeiterschaft ernüchtert und frustriert in die innere Emigration gehen.
«Es wäre an der Zeit, wieder mehr Mut zu machen, aber stattdessen wirkt es so, als hätten die Verantwortlichen enorme Angst, dass ihnen alles um die Ohren fliegt, wenn sie jetzt loslassen.»
Allerdings sind meine Hoffnungen diesbezüglich eher gering. Stattdessen erlebe ich es, dass viele Führungskräfte, ebenso wie Politiker, ungeniert den Druck weiter aufrechterhalten. Die Parolen lauten: «Das, was wir jetzt erleben, war erst der Anfang»; «in Sachen Digitalisierung wird es sowieso kein Zurück mehr geben»; «ab jetzt muss alles gleichzeitig online, hybrid und analog und vor allem on-demand verfügbar sein»; etc. Es wäre an der Zeit, wieder mehr Mut zu machen, aber stattdessen wirkt es so, als hätten die Verantwortlichen enorme Angst, dass ihnen alles um die Ohren fliegt, wenn sie jetzt loslassen.
Zum Schluss des Interviews haben Sie zwei Wünsche frei, wie sehen die aus?
Mein erster Wunsch lautet, dass wir uns mutig unserer Angst stellen und sie nicht permanent versuchen zu unterdrücken. Angst zu haben scheint bei uns als primitiv, irrational und Ausdruck von Schwäche zu gelten. Also tun wir so als hätten wir alles im Griff und begeben uns auf eine dauernde Jagd nach Erfolg und Bestätigung.
Trotz alldem hat uns die Krise klar gemacht, wie begrenzt und ohnmächtig wir sind, und aufgezeigt, dass wir nach wie vor soziale Wesen sind. Insofern wünsche ich mir als zweites mehr Empathie, sowohl im Privaten als auch in unserem Arbeitsalltag! Oder in den Worten von Arno Gruen: «Die Fähigkeit zur Empathie verleiht dem Menschen eine Art Immunität gegen das Unmenschlichsein»