Prof. Paul R. Vogt, Herzchirurg, im Interview

Prof. Paul R. Vogt

Von Helmuth Fuchs

Moneycab: Herr Professor Vogt, wir lernen fast täglich zusätzliche Aspekte des Coronavirus kennen. Neu richtet sich der Fokus auf mögliche Entzündungen im Zusammenhang mit dem Virus und eine mögliche Beeinträchtigung der Blutgerinnung, was wiederum zu Thrombosen führen kann. Was ist der aktuelle Stand aus Sicht der Wissenschaft?

Paul Vogt: COVID-19 greift die Zellen vieler Organe im menschlichen Körper an, so unter anderem die Zellen der Lunge, des Herzens, des Gehirns, der Leber oder des Darm. Das Virus dringt in die Zellen dieser Organe ein, repliziert sich in diesen Zellen, die dabei zerstört werden, was eine Entzündungsreaktion auslöst, die dann entzündungsbedingt zu einer Thrombose von Blutgefässen führen kann, so etwa zur Thrombosierung der kleinen Lungenvenen – ein extrem schwierig zu behandelndes Krankheitsbild.

«Ein wesentlicher therapeutischer Aspekt in der Behandlung von COVID-19 liegt in der Antikoagulation, landläufig «Blutverdünnung» genannt.» Prof. Paul R. Vogt, Herzchirurg

Daneben verändert das Virus auch die Blutgerinnung an sich, indem jene Proteine im Blut, welche die Gerinnung fördern, in ihrer Konzentration zunehmen. Dadurch entstehen bei bis zu 25% aller Patienten Thrombosen in den Arterien und Venen, zum Beispiel in den Beinvenen, den Lungenarterien (klassische Lungen-Embolie) oder den Venen anderer Organe, etwa des Gehirns oder sogar der Prostata. Ein wesentlicher therapeutischer Aspekt in der Behandlung von COVID-19 liegt deshalb in der Antikoagulation, landläufig «Blutverdünnung» genannt.

Sie sind mit Ihrer Stiftung EurAsia Heart Foundation unter anderem auch in China aktiv, in Wuhan, wo sich die Stiftung schon vor 20 Jahren stark für die Weiterbildung eingesetzt hat. Wuhan hat sich mittlerweile international in der Herzchirurgie einen ausgezeichneten Ruf erarbeitet. Wie sieht die Situation heute in Wuhan, dem Ausgangspunkt der Corona-Pandemie, aus? 

Die Partnerklinik von EurAsia Heart Foundation in Wuhan operiert jedes Jahr ungefähr 3’800 Kinder und Erwachsene mit Herzleiden. Während der Pandemie konnten nur wenige Operationen durchgeführt werden: absolute Notfälle, oder Transplantationen. Über 100 Mitarbeiter der Klinik waren zur Bekämpfung der Pandemie aufgeboten worden. Am 7. April hat die Klinik jedoch begonnen, das reguläre herzchirurgische Operationsprogramm in Schritten wieder aufzunehmen. Der üblicherweise Ende Mai stattfindende internationale Herzchirurgen-Kongress dieser Klinik wurde vorerst auf Mitte Oktober verschoben.

Trotz Pandemieplänen, Pflichtlagern und Informationen aus China und anderen asiatischen Staaten fehlte es in der Schweiz offensichtlich an Schutzmaterialien wie Masken, Desinfektionsmittel oder Informationssystemen, welche einen schnelle Überblick zum Beispiel über die Anzahl der verfügbaren Beatmungsplätze ermöglicht hätten. Wie präsentiert sich hier die Schweiz im internationalen Vergleich, welche Lehren können für die Zukunft gezogen werden?  

Europa und die USA waren nicht vorbereitet. Auch die Schweiz nicht. In der Schweiz fehlte es an allen basalen Materialien: Masken, Desinfektionsmittel, Tupfer und Wattestäbchen für den Rachenabstrich, Reagenzgläser, Test-Kits und Laboratorien, in denen die Rachenabstriche analysiert werden konnten. Die Nachverfolgung Infizierter wurde schon nach 332 positiv getesteten Personen aufgegeben.

«Das einzige, was in der Schweiz klappte, war die Behandlung an der Front, das heisst, die Behandlung der Patienten in den Kliniken.»

Es gab – und gibt – meiner Meinung nach auch nie eine Strategie, wie man eine Pandemie bekämpft.

Das einzige, was in der Schweiz klappte, war die Behandlung an der Front, das heisst, die Behandlung der Patienten in den Kliniken und zwar auf den regulären Abteilungen, wie auch auf den Intensivstationen. Viele Intensivstationen haben schwerkranke Patienten mit grossem Erfolg behandelt: bei gewissen Intensivstationen betrug die Überlebensrate 100%!

Die Welt schaut gebannt auf die jeweils für jedes Land publizierten Zahlen (neue positiv getestete Fälle, Tote), obschon zum Beispiel auch in der Schweiz völlig unklar ist, wie viele Personen symptomlose Träger sind und es kein standardisiertes Vorgehen beim Testen gibt (repräsentatives Sampling der Bevölkerung). Wie gut eignet sich eine solche Datenbasis als Entscheidungsgrundlage für politisch und wirtschaftlich so weitreichende Entscheidungen wie wir sie heute sehen, welche Informationen müssen für zukünftige Epidemien und Pandemien vorhanden sein?

Die Probleme des Testens kann man kaum auf zwei Seiten zusammenfassen. Um exakte epidemiologische Daten einer Pandemie zu haben, müsste man entweder Massentests durchführen, oder statistisch repräsentative Stichproben machen, indem man zum Beispiel eine Kleinstadt mit 10’000 Einwohnern komplett testet.

Um den medizinischen Schweregrad einer Epidemie oder Pandemie zu beurteilen, ist es besser die Anzahl von Patienten zu zählen, die hospitalisiert sind und die intensiv-pflichtig und/oder beatmet sind. Und natürlich muss man die Sterberate kennen. Und das alles nicht in absoluten Zahlen, sondern pro 100’000 Einwohner.

«Die Anzahl falsch-positiver, aber auch falsch-negativer Tests ist zu gross und die Anzahl getesteter Personen zu klein, um präzise, epidemiologische Aussagen machen zu können.»

Die aktuelle Teststrategie sagt zu wenig aus, da zum Beispiel wenig symptomatische Patienten einen positiven Rachenabstrich haben, schwerer Kranke mit beginnender Lungenentzündung jedoch einen negativen! Die Anzahl falsch-positiver, aber auch falsch-negativer Tests ist zu gross und die Anzahl getesteter Personen zu klein, um präzise, epidemiologische Aussagen machen zu können. Vielleicht finden sich in der Schweiz 5 bis 15x mehr Infizierte als angegeben. Die Streubreite dieser Schätzung sagt schon alles.

Falls sich diese Pandemie mit einer zweiten Welle zurückmeldet, oder ein noch aggressiveres Virus dazu kommt, wird die Diskussion geführt werden müssen, wie viel wirtschaftlichen Stillstand und wie viel gesundheitlichen Schutz wir uns leisten können, wenn benötigte Ressourcen (Medikamente, Intensivplätze, Betreuungspersonal) nicht in genügender Zahl vorhanden sind. Nach welchen Richtlinien kann eine solche Diskussion geführt werden, ohne in Eugenik oder Rassismus abzudriften?

Sollte die Anzahl Infizierter jetzt kurzfristig wieder ansteigen, so handelt es sich meiner Meinung nach nicht um eine zweite Welle, sondern eher um einen zweiten Peak der ersten Welle, weil wir zu früh «aufgemacht» haben und/oder die basalen Massnahmen nicht einhalten.

«Eine echte zweite Pandemiewelle dürfte – wenn sie kommt – in 3 bis 6 Monaten kommen.»

Eine echte zweite Pandemiewelle dürfte – wenn sie kommt – in 3 bis 6 Monaten kommen. Die zweite Welle der Spanischen Grippe kam 5 Monate nach der ersten und war verheerender, weil sich das Virus in der Zwischenzeit dem Menschen besser angepasst hatte.

Um im Rahmen einer zweiten Pandemiewelle einen erneuten Lockdown verhindern zu können, müssten alle Register der Pandemie-Bekämpfung gezogen werden, was man eigentlich schon jetzt hätte tun sollen:

  1. Abstandhalten;
  2. Masken;
  3. Desinfektionsmittel;
  4. Massentests;
  5. Tracking-App;
  6. Quarantäne infizierter Gesunder;
  7. medizinische Behandlung infizierter Kranker;
  8. Breitflächige Desinfektion der Infrastruktur;
  9. Erneutes Testen zur Erfolgskontrolle.

Die Massnahmen 1-3 sind über Tausend Jahre alt – und nicht mal diese haben in der Schweiz funktioniert, geschweige denn die Massnahmen 4-9.

Mit allen berechtigten Zweifel an den Informationen, welche China immer auch als politisches Mittel einsetzt, was können und müssen wir lernen von China und anderen asiatischen Staaten im Umgang mit Epidemien?

Chinas Strategie war und ist es, COVID-19 zu eliminieren, wie sie das bei SARS auch geschafft haben. Bei COVID-19 dürfte das allerdings ungleich schwieriger werden.

Die Strategie des Westens bestand immer nur darin, das Virus einzudämmen. Die Europäischen Regierungen hatten nie den Ehrgeiz, das Virus zu eliminieren. Südkorea, Taiwan, Singapur und Hongkong und natürlich auch China haben von SARS gelernt und waren strategisch und von der Ausstattung her vorbereitet. 9 Tage nach dem ersten COVID-19-positiven Fall verteilte Südkorea bereits 700’000 Masken an sensitive Stellen und 14 Tage nach dem ersten Fall stand bereits ein Test zur Verfügung, dessen Resultat in 6 Stunden verfügbar war. Südkorea hatte 118 Labors, welche die Tests analysierten – die Schweiz ein Referenzlabor in Genf. Am 31. Dezember orientierte China die WHO – und am 31. Dezember stoppte Taiwan den Flugverkehr mit Wuhan.

«Von den asiatischen Ländern lernen, heisst nicht, ihre Staatsform zu übernehmen. Es heisst lediglich, hinzuschauen, wie man ein medizinisches Problem – eine Pandemie eben – strategisch, technologisch und medizinisch angeht.»

Nebst der oben erwähnten Strategie der 9 Punkte waren diese asiatischen Länder vor allem schnell: die Schnelligkeit der initialen Massnahmen ist wichtig, da sich das Virus exponentiell verbreitet.

In unserer technisch vernetzten Welt können wir eine Pandemie nicht mit 1’000 Jahre alten Methoden (Punkte 1-3) bekämpfen. Wir brauchen Technologien des 21. Jahrhunderts, um eine Pandemie ohne Lockdown erfolgreich bekämpfen zu können. Das haben die asiatischen Länder offenbar besser begriffen.

Von diesen Ländern lernen, heisst nicht, ihre Staatsform zu übernehmen. Es heisst lediglich, hinzuschauen, wie man ein medizinisches Problem – eine Pandemie eben – strategisch, technologisch und medizinisch angeht. Und zwar so, dass man einen wirtschaftlichen Lockdown verhindern kann.

Die Hoffnung der Experten liegt auf einer schnellen Entwicklung eines Impfstoffes und von Medikamenten. Wie berechtigt sind die Hoffnungen, und was bedeutet es, wenn es in absehbarer Zeit keinen solchen Impfstoff gibt?

Zu Zeiten von SARS haben 22 Firmen an einem Impfstoff gegen SARS geforscht und es gelang auch einen Impfstoff zu produzieren, der bis in die klinische Phase-1 kam, aber nie offiziell zertifiziert wurde. Da es nach 2004 keine SARS-Patienten mehr gab, hatten die meisten die Forschung auf diesem Gebiet eben eingestellt.

«Wir müssen realistisch bleiben: bis anhin ist es nie gelungen, einen Impfstoff gegen Coronaviren zu entwickeln.»

Heute forschen 90 Firmen weltweit an einem COVID-19-Impfstoff. Es besteht deshalb die Hoffnung, dass wir in 12 bis 18 Monaten einen Impfstoff haben könnten. Trotzdem: dessen Produktion und globale Distribution dürfte nochmals Jahre benötigen. Bis dann gelingt es vielleicht, Antikörper zu produzieren, welche das Virus im Infizierten blockieren. Oder wir verfügen über eine antivirale Kombinations-Medikation, mit welcher Infizierte, die Symptome haben innerhalb von wenigen Tagen ambulant zu Hause kuriert werden können. Dazu braucht es einen Stick, den jeder ähnlich einem Schwangerschaftstest in der Apotheke kaufen kann. Treten zu Hause Symptome auf, wird getestet, ist der Test positiv, bringt der Hausarzt die definierte Kombinations-Medikation.

Aber wir müssen realistisch bleiben: bis anhin ist es nie gelungen, einen Impfstoff gegen Coronaviren zu entwickeln.

Mit SARS, MERS und auch anderen Coronaviren haben die Menschen eine Art des Zusammenlebens gefunden, ohne dass es zu schweren weiteren Ausbrüchen gekommen ist. Wie stehen die Chancen, dass es mit SARS-CoV-2 genau so sein wird?

MERS und SARS waren für andere nur dann ansteckend, wenn eine infizierte Person auch tatsächlich Symptome zeigte. MERS und SARS wurden deshalb, was den Homo sapiens betrifft, eliminiert. COVID-19 ist jedoch auch dann ansteckend, wenn die infizierte Person noch symptomlos ist und genau das ist die Achillesferse beim Versuch, COVID-19 wie MERS und SARS zu eliminieren.

Es ist nicht sicher, ob wir COVID-19 eliminieren können, oder ob wir mit COVID-19 leben lernen müssen, etwa in dem Sinne, dass wir immer wieder lokale Ausbrüche erleben werden, die wir dann aufwendig mit lokalen Massnahmen begrenzen müssen.

Wie hat das Virus Ihren beruflichen Alltag als Chirurg verändert, wo sind Sie am meisten eingeschränkt, wo ergeben sich neue Möglichkeiten?

Zu Hause in der Schweiz war ich herzchirurgisch mässig eingeschränkt, da wir notfallmässige und dringliche Operationen zu jedem Zeitpunkt durchführten – COVID-19 hin oder her.

Die Arbeit von EurAsia Heart Foundation wurde und ist hingegen komplett blockiert, da wir nicht in unsere Partnerländer reisen können.

Stattdessen haben wir aber für unsere Kollegen zum Beispiel in der Ukraine, in Uzbekistan oder in Russland Webinar-basierte Weiterbildungen zu COVID-19 durchgeführt. Wir beraten sie zudem in der medikamentösen Behandlung von COVID-19 Patienten, stellen Protokolle zusammen und halten regelmässig Konferenzen ab. Auch das Pflegepersonal unserer Intensivstationen hat ihre breites Wissen und ihre Erfahrungen international weitergeben. Ohne adäquates Pflegepersonal kann man keine spezialisierte Intensivmedizin betreiben – und das ist nicht nur zu COVID-19-Zeiten so.

Zum Schluss des Interviews haben Sie zwei Wünsche frei. Wie sehen die aus?

Ich hätte natürlich mehr als zwei Wünsche, aber da ich nur zwei frei habe, antworte ich so: zum Ersten wünsche ich mir, dass wir alle in allen Ländern diese Pandemie so gut wie möglich überstehen und COVID-19 so schnell wie möglich wieder loswerden.

Zum Zweiten hoffe ich, dass EurAsia Heart Foundation diese kritische Zeit übersteht und schnell da wieder aktiv werden kann, wo Tausende und Aber-Tausende von herzkranken Kindern auf eine lebensrettende Operation warten.


Prof. Dr. med. Dr. h.c. Paul Robert Vogt

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