Stephan Schwitter, Direktor wohnbaugenossenschaften schweiz. (Foto: zvg)
von Patrick Gunti
Moneycab: Herr Schwitter, das zu Ende gehende Jahr wurde von der UNO zum Internationalen Jahr der Genossenschaften erklärt. Nach welchem Prinzip funktionieren Genossenschaften im Bereich des Bauens und Wohnens?
Stephan Schwitter: In aller Regel nach dem Prinzip der Gemeinnützigkeit: Der Mietzinsertrag beschränkt sich auf die reine Kostenmiete, Profit wird keiner abgeschöpft, die Liegenschaften sind dauerhaft der Spekulation entzogen. Dadurch werden Genossenschaftswohnungen langfristig immer günstiger. Zudem sind die Bewohnenden in den meisten Genossenschaften durch ihre Anteilscheine Miteigentümer und können dadurch demokratisch mitbestimmen. Die UNO hat zu Recht die weltweite Bedeutung des genossenschaftlichen Wirkens entdeckt!
Welche Bedeutung haben Wohnbaugenossenschaften in der Schweiz? Wie hoch ist der Bestand der Wohneinheiten am gesamten Wohnungsmarkt?
Die Mitgliederzahl ist seit der Gründung des Verbandes im Jahre 1919 stets zunehmend. Die Branche der gemeinnützigen Wohnbauträger hat folglich einen hohen Organisationsgrad. Ihre Wohnungszahl ist aber leider viel zu klein. Die rund 1500 Wohnbaugenossenschaften in der Schweiz besitzen 172‘000 Wohnungen. Das sind etwa 4,2 Prozent des Bestandes von mittlerweile über 4 Millionen Einheiten. Vernünftig wären angesichts der teils akuten Wohnprobleme unserer Bevölkerung 10 Prozent. Denn gemeinnützige Wohnbauträger sind durchschnittlich 20 Prozent günstiger als der gesamte Markt und erbringen für ihre Bewohnerschaft einen vielfältigen Zusatznutzen.
«Das grösste Hemmnis für gemeinnützige Bauträger sind die hohen Preise für die nur noch knapp verfügbaren Baulandreserven.»
Stephan Schwitter, Direktor wohnbaugenossenschaften schweiz
Der Anteil an Genossenschaftswohnungen ist in den letzten Jahren stetig zurückgegangen. Was sind die Gründe?
Das grösste Hemmnis für gemeinnützige Bauträger sind die hohen Preise für die nur noch knapp verfügbaren Baulandreserven. Die Nachfrage nach Wohnraum in der Schweiz ist sehr hoch, die Finanzierung günstig, der Wohlstand steigt, nicht zuletzt im Zuge der Personenfreizügigkeit mit der EU. Dies alles begünstigt Renditeliegenschaften.
Gerade in den Städten steigen die Mietzinsen ins Unermessliche. Welchen Ausgleich schaffen hier Wohnbaugenossenschaften?
Die Wohnungen der Genossenschaften sind in städtischen Zentren noch günstiger als im Durchschnitt. Die Differenz zum Markt beträgt 30 und mehr Prozent. Damit sorgen die Genossenschaften und anderen gemeinnützigen Wohnbauträger für eine gesunde Durchmischung der Bevölkerung in Siedlungen und Quartieren. Da ihre Wohnungen in der Regel kleiner sind als diejenigen anderer Investoren und zudem besser ausgelastet, tragen sie überdies echt zur gewünschten Verdichtung bei. Viele dynamische und gerade junge Wohnbaugenossenschaften leisten mit ihren innovativen Projekten diesbezüglich einen bedeutenden Beitrag für das gute Funktionieren des Gemeinwesens.
Sie sprachen zuvor von 1500 Wohnbaugenossenschaften. Bekannt sind nur ein paar wenige grosse Genossenschaften wie ABZ in Zürich oder FAMBAU in Bern. Wie gross ist denn die durchschnittliche Wohnbaugenossenschaft?
Die durchschnittliche Grösse einer Schweizer Wohnbaugenossenschaft liegt bei rund 100 Einheiten. Etliche eingetragene Genossenschaften haben noch keine Wohnungen oder keine mehr. Der Median unserer gut 1000 eigenen Mitglieder liegt gar bei nur 46 Wohnungen. Mehr als 1000 Wohnungen haben nur 24 gemeinnützige Wohnungsunternehmen. Gerade mal drei davon zählen mehr als 2400 Einheiten, darunter die beiden genannten.
«Wohnbaugenossenschaften sind ein urdemokratisches schweizerisches Erfolgsrezept und ein nachhaltiges Wirtschaftsmodell.»
Gibt es DEN typischen Bewohner und welche Motive hat er, in eine Genossenschaftswohnung zu ziehen?
Typisch für die Bewohnerschaft von Genossenschaften sind Haushalte mit unteren bis mittleren Einkommen. Darüber hinaus gibt es keine einheitliche Typologie, weil schon die Genossenschaften selbst sehr heterogen sind. Idealerweise profitieren jedoch Genossenschafterinnen und Genossenschafter nicht nur von einer guten und zahlbaren Wohnung, sondern auch von einer guten Nachbarschaft. Das heisst, sie engagieren sich selbst für die Gemeinschaft, der der Genossenschaftsgedanke zugrunde liegt.
Welches sind die Mehrwerte?
Wohnbaugenossenschaften sind ein urdemokratisches schweizerisches Erfolgsrezept und ein nachhaltiges Wirtschaftsmodell. Sie stehen für Selbsthilfe und privates kollektives Eigentum. Genossenschaften sind mehr als wohnen. Sie wirken integrativ und bieten ihren Bewohnerinnen und Bewohnern eine hohe Wohnsicherheit und Flexibilität. Dies kommt insbesondere Familien und älteren Menschen zugute. Wohnbaugenossenschaften sind oft auch Pioniere in energietechnischen Belangen. Gute Architektur, autofreie Siedlungen und Nachbarschaftshilfe sind zunehmend weitere Vorzüge von Genossenschaften.
Apropos energietechnische Belange: Viele der Wohnbaugenossenschafts-Immobilien sind in die Jahre gekommen und stehen zur Sanierung an. In der Regel hat dies zum Teil massive Mietzinsaufschläge zur Folge. Verschwindet so an vielen Orten der letzte wirklich billige Wohnraum?
Gerade Genossenschaften werden immer wieder prämiert in ökologischer Hinsicht: für Solartechnik, Geothermie, Minergie-Labels, 2000-Watt, Energie-Contracting, Holzbau, umweltfreundliche Bau- und Betriebsart generell. Aber auch die dafür notwendigen Investitionen fliessen aus einer für Genossenschaften typisch nachhaltigen Wirtschaftsweise: Gewinn wird nicht als Profit abgeschöpft und abgeführt, sondern über die Jahre in der Genossenschaft geäufnet und stetig wieder in Liegenschaften des Mitgliederunternehmens investiert, sei es in Unterhalt oder sei es in Erneuerung und Neubau. Diese Liegenschaftenstrategie der Genossenschaften bewirkt, dass die Mietzinse moderat und sozialverträglich bleiben und die Wohnungen über die Zeit – wie eingangs erwähnt – wieder weit günstiger werden als der Markt.
Die alljährlich seit bald 40 Jahren erstellte Kostenstatistik der Zürcher Baugenossenschaften weist aus, dass die Monatsmiete einer Genossenschaftswohnung im Jahr 2011 durchschnittlich 1172 Franken betrug, sogar 6 Franken weniger als im Vorjahr! Erfasst wurden 39‘056 Wohnungen in 43 Genossenschaften in Zürich und Umgebung (inklusive Neubauten). Diese Daten könnten durchaus auch Geltung haben für die Genossenschaften in der ganzen Schweiz.
Was passiert mit Bewohnern, die sich die sanierten Wohnungen nicht mehr leisten können?
Dafür können eben gerade nicht die gemeinnützigen Wohnbaugenossenschaften verantwortlich gemacht werden. Umso mehr als die Genossenschafterinnen und Genossenschafter über ihre Geschicke demokratisch mitbestimmen können. Wie gesagt: Es müsste bloss mehr Genossenschaften und mehr Genossenschaftswohnungen geben.
wohnbaugenossenschaften schweiz ist die Dachorganisation der gemeinnützigen Wohnbaugenossenschaften in der Schweiz. Wie viele Mitglieder hat der Verband?
Der Verband zählte Ende 2011 genau 1041 aktive Mitglieder mit 140‘000 Wohnungen, gegliedert in neun Regionalverbände. Davon sind über 90 Prozent Genossenschaften. Deshalb nennt sich der Verband seit 1. September 2012 wohnbaugenossenschaften schweiz (vorher Schweizerischer Verband für Wohnungswesen SVW), ohne allerdings damit andere gemeinnützige Wohnbauträger wie Stiftungen, Aktiengesellschaften oder Vereine auszuschliessen. Sie sind mit dem Namenszusatz „verband der gemeinnützigen wohnbauträger“ alle integriert. Hinzu kommen über 200 Fördermitglieder und knapp 20 assoziierte Mitglieder (Städte und Gemeinden).
«Mit unseren Dienstleistungen erfüllen wir einen wichtigen Förderauftrag.»
Was bietet der Verband seinen Mitgliedern?
Mit unseren Dienstleistungen erfüllen wir einen wichtigen Förderauftrag, nicht zuletzt auch im Dienste des Bundesamtes für Wohnungswesen (BWO), das den Dachorganisationen gemeinnütziger Wohnbauträger einen entsprechenden Leistungsauftrag nach Verfassung und Wohnraumförderungsgesetz übertragen hat. Unser Verband ist das Kompetenzzentrum für sämtliche Belange genossenschaftlichen Wohnens. Wir bieten unseren Mitgliedern, von denen viele ehrenamtlich geführt und verwaltet werden, umfassende Beratungen, Weiterbildungen, Fachpublikationen und vieles andere mehr an. Ausserdem erschliessen wir unseren Mitgliedern langfristig günstige Finanzierungen für gemeinnützige Wohnbauprojekte. Wir vertreten die Interessen unserer Mitglieder in Politik und Gesellschaft und verschaffen ihnen nützliche Netzwerke.
Welche Fördermittel stellen Bund, Kantone, Städte oder Gemeinden für den gemeinnützigen Wohnungsbau zur Verfügung?
Der Bund leistet Eventualbürgschaften für günstige Geldmarktanleihen der Emissionszentrale für gemeinnützige Wohnbauträger EGW bzw. deren Mitglieder und für Hypothekarkredite der Hypothekar-Bürgschaftsgenossenschaft schweizerischer Bau- und Wohngenossenschaften HBG. Im Fonds de Roulement stellt er den Dachverbänden zudem rund 500 Millionen Franken für langfristige verzinsliche Darlehen zur Finanzierung von gemeinnützigen Wohnbauprojekten ihrer Mitglieder zur Verfügung. Nur wenige Kantone betreiben noch oder wieder eine aktive Wohnraumförderung. Gemeinden helfen vereinzelt subsidiär, neustens auch mit raumplanerischen Massnahmen.
Vorbildlich handelt die Stadt Zürich, die eine über 100-jährige wirksame Partnerschaft mit den Genossenschaften pflegt. Der Anteil der Wohnbaugenossenschaften am Bestand beträgt hier hohe 20 Prozent, u.a. dank Baurechtsland und steuerlichen Vorteilen. Die Vorzüge des Genossenschaftsmodells dieser gut 40‘000 Wohnungen kommen denn hier auch voll zum Tragen und entlasten die Stadt in der Sozialhilfe substanziell.
Die Fördermittel des Bundes sind zuletzt limitiert worden. Mit welchen Folgen?
Die Vorzüge der Genossenschaften kommen weniger zum Tragen. Das kostet die öffentliche Hand letztlich mehr Sozialleistungen und leistet spekulativen Modellen Vorschub.
Herr Schwitter, besten Dank für das Interview.
Zur Person:
-Stephan Schwitter, lic. phil., Historiker und Geograph
-Jg. 1956, verheiratet, 3 erwachsene Kinder, wohnhaft in Horgen am Zürichsee
-Aufgewachsen in einer Baugenossenschaft im Berggebiet
-Laufbahn als Werkstudent, Gymnasiallehrer, Politiker, NPO-Manager
-Seit 1. März 2004 Direktor des Schweizerischen Verbandes für Wohnungswesen SVW, Vorsitzender der Geschäftsleitung und insbesondere zuständig für den Bereich Politik und PR
-Hobbies: Bergsteigen, Schach und Alphornblasen