Von Helmuth Fuchs
Die Zahl neuer positiv Getesteter in der Schweiz steigt gesamthaft tendenziell weiterhin leicht an, vor allem durch die Zahlen in den Kantonen Genf, Waadt und Zürich. Ob das beunruhigend ist oder ein Erfolg, dass es trotz Lockerungsmassnahmen und Ferienrückkehrer nicht mehr positive Tests gibt, ist reine Interpretationssache, da es keine Zieldefinition und keine detaillierte Analyse der Ansteckungsorte gibt.
Zudem ist die Datenlage zu wichtigen Fragen, wie hoch zum Beispiel die Ansteckungs- und Verbreitungsgefahr in den Schulen durch SchülerInnen im Alter bis 12 Jahren ist, noch ungenügend. Dies macht es für die Verantwortlichen in den Kantonen auch schwierig, die bestmöglichen Massnahmen zu treffen. Inwieweit Masken in Schulen zum Beispiel zielführend sind, lässt sich auf dieser Grundlage kaum beantworten. Erstaunlicherweise gibt es offenbar auch keine wissenschaftlichen Projekte, welche den Schulstart jetzt mit umfassenden Tests begleiten, um möglichst schnell gesicherte Daten zu erhalten.
Der Fokus auf eine mit Vorsicht zu geniessende Kenngrösse
Die medial im Fokus stehende Zahl der positiv Getesteten ist prinzipiell mit Vorsicht zu behandeln. Diese hängt stark ab von der Anzahl der getesteten Personen und aus welchem Segment diese Personen stammen (Rückkehrer aus Hotspots, Teilnehmer von grossen Veranstaltungen, Kontaktpersonen einer positiv getesteten Person…). Ebenso dürfte eine Rolle spielen, dass sich das Virus in den Monaten seit dem Ausbruch schon weiter verbreitet hat, bei zunehmend milderen Verläufen.
Hier die Zahlen der letzten Tage des BAG (Bundesamt für Gesundheit):
- 10. August: 105 positiv Getestete, 2’100 durchgeführte Tests
- 11. August: 187 positiv Getestete, 4’816 durchgeführte Tests
- 12. August: 274 positiv Getestete, 7’560 durchgeführte Tests
- 13. August: 236 positiv Getestete, 5’468 durchgeführte Tests
- 14. August: 268 positiv Getestete, 7331 durchgeführte Tests
Was ist das Ziel aller Massnahmen?
War das Ziel anfangs der Epidemie noch klar (die Verhinderung der Überlastung des Gesundheitswesens), ist die aktuelle Zielsetzung völlig unklar.
- Geht es immer noch um die Überlastung des Gesundheitswesens?
Hier zeigt sich die Situation in den Spitälern mittlerweile seit etwa zwei Monaten entspannt. 106 Covid-19-Patienten befinden sich in Spitalpflege, davon 31 auf der Intensivstation.
- Geht es um die Verhinderung einer exponentiellen Ausbreitung?
Wie schnell sich das Virus ausbreiten kann, hängt unter anderem davon ab, wie viele andere Personen eine infizierte Person anstecken kann. Gemessen wird dies mit der Reproduktionszahl (R-Wert). Ein Wert über 1 bedeutet, dass eine exponentielle Verbreitung möglich ist. Die letzten Schätzungen der ETH zeigen den R-Wert relativ stabil auf 0.9.
- Geht es um die Verhinderung möglicher Todesfälle?
Jeder Todesfall ist ein schmerzlicher Verlust und niemand möchte sich vorwerfen lassen, nicht alles unternommen zu haben, dies zu verhindern. Das gilt für Ärzte, Angehörige und in gewissem Masse auch für den Staat. Dieser muss aber in einer Abwägung verschiedener Interessen den dafür notwendigen Mitteleinsatz koordinieren. So könnte zum Beispiel die Anzahl von Toten einer Grippewelle durch Impf- und Maskenzwang, ein striktes Verbot von Menschenansammlungen und einem zwingenden Abstand von mindestens 2 Metern massiv gesenkt werden. Dies wäre aber ein Eingriff in die Rechte von Privatpersonen und Unternehmen, vor dem sich die Politiker bis anhin klar distanzierten.
Das grösste Todesfallrisiko haben Menschen über 70 Jahre. Trotzdem gibt es beim Betreuungspersonal in Alters- und Pflegeheimen oder bei der Spitex kein kontinuierliches und systematisches Testen. Vielleicht, weil sich die Erkenntnis in den medizinischen Kreisen schon durchgesetzt hat, dass ein positiver Test noch keine Erkrankung bedeutet und auch Infizierte in Altersheimen zum grösseren Teil einen symptomlosen oder milden Verlauf aufweisen? Oder ganz einfach, weil auch bei einem positiven Test auf das Pflegepersonal nicht verzichtet werden kann? Es zeigt zumindest, dass man offenbar den Schutz derjenigen mit dem höchsten Todesfallrisiko (Menschen über 70 Jahre) nicht um jeden Preis will.
Nebst einem kurzzeitigen Anstieg der Todesfälle im 2020, welche mit den starken Grippewellen der Jahre 2015 und 2017 vergleichbar ist, zeichnet sich das Jahr 2020 bis anhin vor allem durch eine unterdurchschnittliche Sterblichkeit aus, gerade auch in der Altersgruppe der über 65-Jährigen.
Wenn es bei all den Massnahmen um eines der obigen drei Ziele ginge, könnte man etwas durchatmen, statt mit täglichen «Fallzahlen» (richtigerweise «positive Test») medial das Dramaniveau hoch zu halten. Dann liesse sich mit den richtigen Massnahmen (Abstand, Hygiene, Vermeidung von grossen und dichten Menschenansammlungen über längere Zeit) relativ unbeschwert in de Zukunft schauen.
Kakophonie der Meinungen statt einheitliche Stimme
Da der Bundesrat sich nach der Entschärfung der Krisensituation nicht mehr zu den Zielen der neuen Phase geäussert hat, ist es auch schwierig zu beurteilen, ob wir uns auf einem guten Weg befinden, ob die Massnahmen zielführend und welche nächsten Schritte angebracht sind. Das befeuert die zunehmende Kakophonie von Expertenstimmen aus der COVID-19 Task Force, die den Bundesrat wissenschaftlich unterstützen soll, dem BAG und dem Bundesrat.
Da der Bundesrat seine Entscheidung nicht nur wissenschaftlich begründen, sondern in seinen Massnahmen auch politische und wirtschaftliche Realitäten berücksichtigen muss, mehren sich auf den sozialen Medien und in Interviews die Voten von frustrierten Wissenschaftlern.
Selbstverständlich sollen sich die Wissenschaftler in der Diskussion auch mit der eigenen Stimme zu Worte melden dürfen. Als Teil der COVID-19 Task Force wäre es im Sinne einer einheitlichen Stimme der Wissenschaft aber zielführender, wenn sich die Task Force und das BAG auf eine Position einigen und dieses auch nach aussen vertreten würde. Dies hat ihnen der Bundesrat voraus, indem sich dort auch nicht die einzelnen Mitglieder über eigene Kanäle mit unterschiedlichen Positionen zu wichtigen Entscheiden gegenseitig lahmlegen.
Auch hier liegt das Problem im nicht bekannten Ziel der gegenwärtigen Massnahmen. Wäre das Ziel bekannt, könnten die Massnahmen auf ihre Wirksamkeit überprüft werden. So bleiben wir bei undurchsichtigen, scheinbar stark durch verschiedene Anspruchsgruppen und Lobbyisten geprägten und teilweise willkürlich wirkenden Schritten auf ein unbekanntes Ziel hin. Das eröffnet den Kantonen viel Spielraum für eigene Interpretationen, erschwert aber die Kommunikation und vor allem das Einbinden der Bevölkerung, welche die Massnahmen nur mittragen wird, wenn sie einleuchtend und zielführend sind.
„Wer den Hafen nicht kennt, in den er segeln will, für den ist kein Wind der richtige.“ Lucius Annaeus Seneca (Seneca der Jüngere)
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