Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Trump-Cocktail
„Sell in may and go away“. Diesen Spruch kennt jeder, der sich irgendwie mit der Börse beschäftigt. So originell er sein mag, er hat faktisch keine statistische Signifikanz. Oft will es der Zufall, dass ausgerechnet der Mai zu einem Verkaufsmonat wird oder es hat tatsächlich veritable Gründe dafür. Aber das kann genauso gut im Juni oder Juli passieren. Aber ich mache schon jetzt eine Wette, dass wir die berühmte Binsenwahrheit die nächsten Tage wiederholt hören werden, allein schon mangels sonstiger Argumente.
Die jüngste Geschichte der Börse bestätigt, was wir schon lange wissen. Nicht die Vernunft regiert dort das Geschäft, sondern Versuch und Irrtum – neudeutsch: „trial and error“. Man muss nur sechs Monate zurückschauen und rekapitulieren, was seitdem passiert ist, um sich darin bestärkt zu fühlen. Es begann im Dezember 2018, als die Kurse unvermittelt einbrachen. In den USA war es gar der schwärzeste Dezember der Börsengeschichte. Und wie immer bei solchen Betriebsunfällen an den Finanzmärkten hatten im Nachhinein abenteuerliche Erklärungsversuche Hochkonjunktur.
«Immer wenn der Ölpreis auch noch als Erklärungsmuster dient, kann man davon ausgehen, dass auch die Profis weitgehend im Dunkeln tappen.»
Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen
Erst Angst vor einer weiteren Straffung der amerikanischen Geldpolitik, dann Konjunkturängste, mal wegen Europa, mal wegen den USA, der Handelskonflikt zwischen den USA und China, den besonders Wagemutige bereits im November 2018 als beigelegt betrachteten und das ganze Hin und Her rund um den Brexit. Italien wurde auch bemüht, es gab also genug möglicher Erklärungen für das was geschah. Ach ja, den Ölpreis habe ich noch vergessen, der im Dezember ein Mehrjahrestief erreichte. Immer wenn der Ölpreis auch noch als Erklärungsmuster dient, kann man davon ausgehen, dass auch die Profis weitgehend im Dunkeln tappen.
Wundersame Erholung
Nach dem Blutbad an den Börsen Ende 2018 kam es zu einem fulminanten Start ins Jahr 2019. Eine wahrlich wundersame Erholung setzte ein. Die Aktien kletterten und kletterten und dieselben Argumente wie Ende 2018 machten wieder die Runde nur mit umgekehrten Vorzeichen. Die Ängste über weitere Zinserhöhungen waren demnach vom Tisch, ja die Märkte hofften insgeheim sogar auf Zinssenkungen. Die Konjunkturängste – so sagten viele Analytiker – hätten sich als übertrieben herausgestellt, der Brexit wurde ausgeblendet, bis er dann verschoben wurde, Italien war kein Thema mehr, der Handelskonflikt schwelte, aber die Hoffnungen auf dessen Beilegung waren wieder grösser und natürlich der Ölpreis. Der zog wieder an. Mit dem Resultat, dass die Börsen Ende April neue Höchststände markierten, der Schweizer Leitindex sogar ein Allzeithoch.
Der breitere Swiss Performance Index, der auch noch die Dividenden berücksichtigt, lag Ende April 2019 fast 20% höher als zum Jahresbeginn. Da kann man nicht mehr von Optimismus sprechen und auch nicht von Korrektur übertriebener Ängste, sondern nur noch von Unvernunft. Alan Greenspan, ehemaliger Notenbankchef in den USA, bezeichnete solche Börsenläufe einmal als „irrational exuberance“. Einen irrationalen Überschwang kann eigentlich niemand erklären. Nur im Finanzmarkt finden sich welche, die beim Roulette wissen, wieso die Kugel auf der Null stoppte. Notabene stoppte und nicht stoppt oder stoppen wird.
Mai-Alibi für die Gier
Natürlich kann man den Auslöser der akuten Börsenschwäche im Tweet Donald Trumps letzten Sonntag sehen, dem er unmittelbar auch Taten folgen liess, indem er die Handelsgespräche mit China platzen liess und den Zolltarif für gut 200 Milliarden schwere Importe aus China von 10% auf 25% anhob. Einmal mehr demonstrierte der US-Präsident seine Unberechenbarkeit. Er glaubt wohl noch immer an sein Mantra, dass Handelskriege leicht zu gewinnen seien. Doch der Schuss dürfte nach hinten losgehen und letztlich der US-Wirtschaft mehr schaden als nutzen.
Dieselbe Unberechenbarkeit schürt auch den Nahostkonflikt und erhöht die Spannungen mit dem Iran. Auch das dient als Erklärungsansatz der harschen Börsenkorrektur. Letztlich aber dürfte vor allem ausschlaggebend gewesen sein, dass an den Märkten die Einsicht einkehrte, nicht in einer Einbahnstrasse unterwegs zu sein. Eine zweistellige Performance in vier Monaten in einem konjunkturell nicht mehr berauschenden und geopolitisch angespannten Umfeld ist nun mal die Ausnahme.
Darauf besinnen sich die Marktteilnehmer nun wohl auch. Das ist nicht übertrieben, sondern eher rational. Der Trump-Cocktail dient lediglich als willkommenes Alibi, Gewinne mitzunehmen. Im Grunde ahnten viele – auch Analysten -, dass früher oder später Gewinnmitnahmen einsetzen würden. Nur hofften alle, noch etwas mehr mitnehmen zu können. Das kommt selten gut. Der Mai ist jedenfalls nicht dran schuld, dann schon eher die Gier.
Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen